„Wenn man eine Familie stützt, hilft man den Kindern am meisten“

Christel Brendle, Diplomsozialwissenschaftlerin und Familientherapeutin, hat gemeinsam mit Hildegard Kugler vor 20 Jahren die Beratungsstelle für Angehörige von Inhaftierten Treffpunkt e.V. in Nürnberg aufgebaut. Es ist eine der ersten Beratungsstellen der Freien Straffälligenhilfe in Deutschland, die diesem Personenkreis Hilfestellung leistet.

Die BAG-S sprach mit ihr über die Situation von Kindern und Müttern von Inhaftierten.

Christel Brendle / Leiterin Treffpunkt e.V.
BAG-S: Frau Brendle, warum gibt es einen Bedarf an einer speziellen Beratungsstelle für Angehörige von Inhaftierten?
Christel Brendle: Während sich andere Beratungsstellen um allgemeine soziale Probleme kümmern oder auch an Inhaftierte wenden, können wir speziell auf die Sorgen der Angehörigen eingehen. Wir haben ein genaues Wissen über den Strafvollzug und kennen die Auswirkungen auf die Familien.
Gleichzeitig haben wir Kontakte zu den Sozialfachdiensten der Justizvollzugsanstalten in ganz Bayern.
Dass wir gebraucht werden, sehen wir daran, wie viele Menschen Rat suchen. Allein im letzten Jahr hatten wir 2.867 Kontakte - persönliche Gespräche, Telefonate und Onlineberatung.
BAG-S: Um welche Sorgen und Nöte geht es?
Christel Brendle: Da ja überwiegend Männer inhaftiert sind, sind es vor allem Frauen, die unsere Beratungsstelle aufsuchen. Eine der häufigsten Fragen von Müttern ist: Sage ich es meinem Kind, dass der Papa inhaftiert ist?
BAG-S: Was raten Sie dann?
Christel Brendle: Das ist sehr unterschiedlich. In den meisten Fällen raten wir, es zu erzählen. Es gibt Ausnahmen, wenn das Kind noch sehr klein ist, oder wenn das Delikt sehr gravierend ist, oder wenn beispielsweise überhaupt nicht klar ist, ob die Frau bei dem Mann bleibt, weil er so lange inhaftiert ist. Wir gehen auf die individuelle Situation ein. So erzählte mir die Mutter einer Sechsjährigen, ihre Tochter wisse nicht, dass der Vater inhaftiert ist und sie wolle es ihr auch gar nicht sagen. Ich sagte ihr, dass ihre Tochter doch mitbekommt, wenn die Mutter am Telefon weint und über ihre Situation spricht. Die Mutter blieb dabei: Nein, „der Papa ist auf Montage“. Und dann hat die Kleine eines Tages Bilder gemalt – mit Gitterstäben darauf.
BAG-S: Kann man sagen, dass Kinder von Inhaftierten immer unter der Situation leiden?
Christel Brendle: Manche Kinder bleiben äußerlich ganz cool. Sie spazieren einmal in der Woche mit der Mama ins Gefängnis, besuchen den Papa und gehen wieder. Andere fressen den Kummer in sich rein. Um generellere Erkenntnisse zu bekommen, beteiligen wir uns gerade in Zusammenarbeit mit
der Universität Dresden an dem EU-Forschungsprojekt ‚Coping‘. Dabei wird untersucht, wie Kinder die Situation erleben und verarbeiten.
BAG-S: Wie sehen Sie das aus Ihrer Erfahrung?
Christel Brendle: Die Situation der Kinder hängt davon ab, wie die Beziehung zum Vater war. Je intensiver sie war, umso mehr vermissen sie den Vater. Manche Kinder können nicht verstehen, dass der Papa nicht an Weihnachten heim darf oder nicht wenigstens zu ihrem Geburtstag kommt. Ich hatte einen Fall, da hat ein 10-jähriger Junge die Inhaftierung seines Vaters mitbekommen. Die Polizei hat ihn zu Hause abgeholt. Das war eine Betrugssache und der Junge hat überhaupt nicht verstanden, warum der Papa nun ins Gefängnis kam. Er war am Boden zerstört. Wir haben den Jungen betreut und unterstützt. Der Mutter haben wir geraten, ihrem Kind klarzumachen, dass der Vater ihn immer noch liebt, aber dass er etwas falsch gemacht und nun bestraft wird. Vor kurzem hat mir die Mutter geschrieben und hat sich bedankt. Sie hat erzählt, dass sich ihr Sohn gut entwickelt hat.
BAG-S: Warum betonen Sie das so?
Christel Brendle: Weil man auch aufpassen muss, dass das Kind nicht Polizei und Justiz als Feindbilder versteht. Es soll das Vertrauen in den Vater, aber auch in das Rechtssystem behalten. Das ist nicht leicht. Mir erzählte eine Mutter, dass ihr Steppke, als ein Polizeiauto auf der Straße vorbeifuhr, sagte: „Bisher war der Tag ganz schön.“ So viel bittere Ironie von einem Kind, da bekomme ich eine Gänsehaut.
BAG-S: Wie kann man den Kindern helfen?
Christel Brendle: Die meisten Familien machen gute Erfahrungen damit, wenn sie offen mit der Situation umgehen. Kinder verstehen ziemlich gut, dass man einen Fehler machen darf. Dann muss man halt eine Strafe dafür bekommen und dann ist es wieder in Ordnung. Deswegen ist der Vater noch kein böser Mensch. Anders sieht es aus, wenn die Mutter ihn zu einem macht, oder wenn die Mutter nur noch da sitzt und heult oder nur noch mit Freundinnen telefoniert. Wenn sie gar keine Zeit mehr für das Kind hat, weil es ihr so schlecht geht. Dann ist ja ganz klar, dass das Kind darunter leidet. Je besser das Verhältnis zur Mutter ist, je stabiler die Mutter ist, je besser sie ihren Alltag ohne den Mann meistert, umso leichter ist es für die Kinder.
BAG-S: Geht es also auch darum, den jeweiligen Elternteil zu stützen?
Christel Brendle: Man kann den meisten Kindern damit helfen, dass man die Mütter vor allem am Anfang der Inhaftierung hilft, ihren Alltag zu bewältigen. Hier meine ich psychologische oder
sozialpädagogische Unterstützung, aber auch praktische Hilfe bei Fragen der Existenzsicherung. Auf die Frauen von Inhaftierten stürzt gerade in den ersten Wochen und Monaten unglaublich viel ein. Häufig rennen sie zwischen Jobcenter, Anwalt und Gefängnis hin und her. Sie haben die Kinder, sie haben die Verwandtschaft, sie haben ihre eigene Trauer, sie haben ihre eigene Scham. Wir bieten deswegen Gesprächsgruppen für Frauen, mit Kinderbetreuung, so dass die Frauen mal entspannt sprechen können. Und dann haben wir auch noch eine Gesprächsrunde für Eltern von Inhaftierten, die ja oft auch Großeltern sind. Wenn man in dieser Zeit eine Familie stützt, hilft man den Kindern am meisten.
BAG-S: Und was ist mit der Beziehung zu den inhaftierten Vätern?
Christel Brendle: Auf der einen Seite haben diese Männer eine Straftat begangen. Auf der andern Seite bleiben sie die Väter ihrer Kinder und haben sehr wohl Vatergefühle. Wir bieten deswegen eine Vater-Kind-Gruppe in der JVA Nürnberg an. Hier können sich die Väter intensiv mit ihren Kindern beschäftigen, spielen, basteln, erzählen, mal zwei Stunden ganz intensiv zusammen zu sein. Sie bekommen auch die Chance der Mutter ein Geschenk zu basteln, beispielsweise zum Muttertag, zu Ostern oder zu Weihnachten. Für die Kinder ist es wichtig zu erleben, dass sie gemeinsam die Zeit verbringen. Es kommt wieder so ein bisschen Normalität in die Familie. Sie sehen auch, dass es dem Vater gut geht und dass es andere Kinder gibt, die in der gleichen Situation sind. Parallel zu dieser Vater-Kind-Gruppe gibt es eine Reflektionsgruppe für die Väter. In dieser Gruppe werden Erziehungsfragen besprochen: Wie habt ihr eure Freizeit gestaltet vor der Inhaftierung? Wie könnte es danach aussehen? Aber auch: Wie viel Taschengeld wäre ab welchem Alter angemessen? Wir versuchen so die Rolle der Väter zu stärken.
BAG-S: Sie thematisieren auch die Zeit nach der Haft?
Christel Brendle: Ja, denn letztendlich ist die Frau während der Inhaftierung die Alleinerziehende, das Familienoberhaupt, die Ansprechpartnerin. Das wird schwierig, wenn die Väter entlassen werden. Oft kommen die Väter in eine völlig andere Familie zurück. Da fühlen sie sich schnell ausgeschlossen
und zurückgestoßen. Auf diese Probleme weisen wir im Einzelgespräch hin.
Einige Träger bieten Familienseminare als Vorbereitung zur Entlassung an. Hier sind die Gefangenen mit ihren Frauen und Kindern für mehrere Tage in einem Tagungshaus untergebracht. Es wird therapeutisch mit den Paaren gearbeitet, die Kinder werden separat in Gruppen betreut. Nachmittags gibt es Unternehmungen, in denen die Familien gemeinsam die Freizeit gestalten. Solche Angebote sollten ausgebaut werden.
BAG-S: Was könnten JVAs tun, um die Beziehung zwischen Kindern und Inhaftierten und die Situation der Familien zu verbessern?
Christel Brendle: Man könnte die Tatsache, dass ein Inhaftierter eine Familie hat, mehr berücksichtigen. Wenn es möglich ist, sollte man eher den offenen Vollzug wählen. Man könnte ein bisschen großzügiger bei der Gewährung von Ausgang sein, zum Beispiel wenn das Kind eingeschult wird, und hierbei auf Handschellen verzichten. Man könnte mehr Familienangebote in den Gefängnissen einrichten.
BAG-S: Was bräuchte man dafür?
Christel Brendle: Bisher gab es kaum eine Finanzierung für solche Angebote. Diese Situation ändert sich gerade; in einigen Bundesländern bestehen schon Familienangebote, die vom Justizministerium finanziell gefördert werden.
BAG-S: Was wünschen Sie sich aktuell?
Christel Brendle: Ich finde es sehr gut, dass dieses Thema jetzt mehr in die Öffentlichkeit kommt. Und dann habe ich einen ganz persönlichen Wunsch. Ich bewundere, mit wie viel Energie viele Frauen ihre schwierige Situation meistern. Deshalb würde ich ihnen und den Kindern gern mal ein Wochenende zur Entspannung anbieten. Aber dafür gibt es leider keine Finanzierung.