Verurteilte Eltern – bestrafte Kinder?

Der neue BAG-S Informationsdienst Straffälligenhilfe möchte dazu ermuntern, gemeinsam gesellschaftliche Verantwortung für die betroffenen Kinder zu übernehmen. Nach aktuellen Berechnungen der Universität Dresden sind in Deutschland rund 100.000 Minderjährige von der Inhaftierung eines Elternteils betroffen. Wie kann es sein, dass einhunderttausend Kinder und Jugendliche in einem Land mit einer alarmierend niedrigen Geburtenrate von 1,39 aus dem Blick geraten? Trotz nachgewiesenen Hilfebedarfs werden die Problemlagen der jungen Menschen von den Justiz- und Sozialbehörden bisher weitestgehend ignoriert, warum?

 

 

Zum einen können sich Kinder Inhaftierter nicht wirksam wehren, sie werden –  international verbriefte Beteiligungsrechte hin oder her –  nicht einmal gehört. Zum anderen liegen ihre Bedürfnisse und Probleme im toten Winkel der Politik bzw. im Niemandsland des Föderalismus und des Ressortdenkens. Der Bund verweist wie im Falle der Kleinen Anfrage (Drucksache 17/6984) geschehen –  die von ihm ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention ausblendend – auf die neue Zuständigkeit der Länder für den Strafvollzug. Dort zeigt dann wiederum der Vollzug gerne auf das Jugendamt und umgekehrt.

Es ist höchste Zeit, dieses Ritual, die Verantwortung und damit Arbeit und Kosten auf andere abzuwälzen, zu beenden. Es gibt eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung, diese Kinder zu schützen, sie aus dem Abseits zu holen, in das sie unverschuldet hineingeraten sind. Auch die Kinder einer straffällig gewordenen Person sind auf Grund der familiären und sozialen Folgewirkungen Opfer der Straftat. Die Bundesrepublik Deutschland als eines der führenden und reichsten Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft hat zweifellos die Mittel und das Know-how, sich der Kinder inhaftierter Eltern wirksam anzunehmen. Falls es dazu noch einer formalen Begründung bedurft hat, liegt diese spätestens mit den Ergebnissen der COPING-Studie vor. In dieser von der Europäischen Union initiierten Untersuchung wird nicht nur das hohe Gefährdungspotential wissenschaftlich belegt, es wird auch die beschämende Versorgungssituation insbesondere in Deutschland aufgezeigt.

Alle beteiligten Institutionen sind deshalb aufgerufen, endlich die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen und die liegen gebliebenen Hausaufgaben zu machen. Am stärksten gefordert ist der Vollzug. Von einzelnen Gefängnissen abgesehen, ist er das was Gernot Hahn den „Prototyp einer familienfeindlichen Institution“ nennt. Statt sich an chancenreichen Modellen einer humanen, behandlungsorientierten, die Rechte und Bedürfnisse der Kinder berücksichtigenden Praxis zu orientieren, werden z. B. in Bayern und Nordrhein-Westfalen mit der Einführung von Trennscheiben zwischen Gefangenen und Besuchern und anderen vermeintlich sicherheitsorientierten Maßnahmen gegenläufige Entwicklungen deutlich, die das Zerbrechen menschlicher Beziehungen und Eltern-Kind-Bindungen billigend in Kauf nehmen. Natürlich ist hier vor allem die Politik gefordert, die ethische Qualität ihres Handelns zu überdenken. Es geht im Kern um die Frage, in welchem Maße ich als Minister/in bereit bin, "Kollateralschäden" an Kindern für ein Mehr an vermeintlicher Sicherheit bzw. Ruhe vor einer sensationslüsternen Presse hinzunehmen. Dabei wird leider völlig übersehen, dass sich die Medien längst nicht mehr ausschließlich für spektakuläre Entweichungen und die Umstände der Entlassung von ehemals Sicherungsverwahrten interessieren. In jüngster Zeit mehren sich eher sozialkritische Reportagen über menschenunwürdige Haftbedingungen, aber auch über gute Ansätze familienorientierter Vollzugsgestaltung. Eine Justizvollzugsanstalt, die kindgerechte Rahmenbedingungen für Besuche, Telefon- und E-Mail-Kontakte oder gar Vater-Kind-Wochenenden ermöglicht, ist daher immer für eine positive Schlagzeile gut. Wie man zu einem Vollzug gelangen kann, der Kindern und Eltern gerecht wird, haben Fachkräfte der Freien Straffälligenhilfe und der Seelsorge in unseren Empfehlungen zum „Family Mainstreaming im Gefängnis“ beschrieben. Diese Expertinnen und Experten, die speziell mit betroffenen Kindern und Familien arbeiten sind mit ihrer Erfahrung und ihrem Praxiswissen wertvolle Ansprechpartner/innen für die Kollegen im Vollzug, aber auch in den Jugendämtern und Schulen, die mit diesem Thema ebenfalls meist Neuland betreten. Nun ist es keineswegs so, dass die ca. 550  Anlaufstellen der Freien Straffälligenhilfe im Lande prinzipiell auch die Kinder und Familien in den Blick nehmen. Die große Mehrheit der Vereine und Initiativen bündelt zwangsläufig ihre knappen Ressourcen für die Beratung und Begleitung der straffällig gewordenen bzw. aus der Haft entlassenen Personen. „Wir haben nicht genug Personal für unsere eigentliche Arbeit. Jetzt sollen wir uns auch noch um die Kinder kümmern. Wie soll das gehen?“ Also (auch) kein Geld, erledigt? Ich finde nein. Wenn sich die Situation der Kinder inhaftierter Eltern wirklich substantiell bessern soll, ist auch die Freie Straffälligenhilfe, sind auch deren Verbände in der Pflicht. Braucht es nicht auch ein „Family Mainstreaming“ in der Straffälligenhilfe selbst? Muss nicht, wie Dorothea Korb in anderem Kontext schreibt, der Arbeit mit Straffälligen die Einsicht zu Grunde gelegt werden, dass „zu jedem Menschen, der inhaftiert ist, auch eine Familie gehört und dass inhaftierte Männer und Frauen Väter und Mütter von Kindern sind?“ 

Machen wir uns nichts vor, es wird wohl noch ein langer Marsch werden, aber dieser beginnt ja bekanntlich immer mit einem ersten Schritt. Unsere Kolleginnen und Kollegen in Dänemark, von denen ich viel über Familienorientierung im Strafvollzug gelernt habe, haben auch bescheiden angefangen. Bis vor kurzem gab es dort nur die Idee, ähnlich wie in Norwegen und Schweden, Kinderverantwortliche aus den Reihen der Vollzugsbediensteten zu bestimmen. Ein kleines Pilotprojekt erbrachte den Beweis, dass es damit möglich ist, bessere und durchaus finanzierbare Besuchsbedingungen für Kinder zu entwickeln. Vor ein paar Wochen erreichte uns dann die freudige E-Mail aus Kopenhagen, dass sich die dänische Regierung trotz schwieriger Haushaltslage überraschend  entschieden habe, dieses Modell flächendeckend einzuführen. 

Auch in Deutschland gibt es Anzeichen für einen Aufbruch. Das zeigt sich z. B. daran, dass sich in 2012 nicht nur zahlreiche Gefangenenzeitschriften, sondern auch meinungsbildende Periodika wie Forum Strafvollzug und NDV dem Thema intensiv widmeten. Außerdem gab es in diesem Jahr eine Reihe von Fachveranstaltungen, die sich mit Beispielen guter Praxis der Familienorientierung in der sozialen Strafrechtspflege auseinandersetzen. Unsere eigene Veranstaltung, das Fachgespräch „Mehr Familie wagen – Für ein besseres Leben von Kindern Inhaftierter“, konnte dank der außerplanmäßigen Förderung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales stattfinden. Dies deute ich als ein sehr ermutigendes politisches Signal. Es bleibt zu hoffen, dass wir mit den Aktivitäten im Rahmen unseres Jahresthemas für 2012 „Verurteilte Eltern – bestrafte Kinder“ nicht nur ein Strohfeuer entfacht, sondern einen nachhaltigen Impuls gesetzt haben. Den vielen Frauen und Männern, die daran mitgewirkt haben, sei herzlich gedankt. Hervorheben möchte ich dabei Frau Dr. Helle Becker, die uns allzeit half, die richtigen Worte zu finden.

Wer das alles noch einmal in Ruhe nachlesen möchte, dem sei die neuste Ausgabe unseres "Informationsdienstes Straffälligenhilfe" empfohlen. Bestellen können Sie sie mit diesem Formular oder per Mail.

Ihr
Dr. Klaus Roggenthin
Geschäftsführer der BAG-S