Anmerkungen zu einer aktuellen Entscheidung des Bundessozialgerichts (Bundessozialgericht B 4 AS 22/14 R vom 24.4.2015)
„Drum prüfe, wer sich ewig bindet“ (Schiller) oder „wenn sich der Antragsteller durch den Antrag in das Regime des SGB II begeben hat …“ (Bundessozialgericht)
Es birgt ein gewisses Risiko in sich, Anmerkungen zu einer Gerichtsentscheidung zu formulieren, wenn einem der Entscheidungstext noch nicht vorliegt. Da die aktuelle Entscheidung des Bundessozialgerichts aber eine für die Beratung von Strafentlassenen zentrale Entscheidung des Landessozialgerichts Bayern revidiert, halte ich es für notwendig, zeitnah die Folgen des Urteils zu skizzieren.
Sachlich geht es um Folgendes:
Ein Antrag auf SGB II-Leistungen im Monat der Haftentlassung führt zur Anrechnung des Überbrückungsgeldes für vier Wochen auf die SGB II-Leistung. Oftmals entfällt dadurch der Anspruch vollständig. Findet die Haftentlassung gegen Ende eines Monats statt, kann es vernünftig sein, den Antrag erst für den Folgemonat zu stellen. In diesem Fall zählt das im Kalendermonat vor Beginn des Leistungsbezugs zugeflossene Überbrückungsgeld als Vermögen, das, solange die Schonvermögensgrenze nicht überschritten wird, anrechnungsfrei bleibt. Nicht selten wird aber den Betroffenen erst im Nachhinein klar, dass eine spätere Antragstellung zweckmäßig gewesen wäre. Das Bayerische Landessozialgericht hat in einer beachtenswerten Entscheidung (LSG Bayern L 7 AS 642/12 vom 27.2.2014) klargestellt, dass die Rücknahme eines Antrags möglich ist und die Antragswirkung auf einen anderen Zeitpunkt verschoben werden kann. Zudem müsse das Jobcenter bezüglich der optimalen Antragstellung pflichtmäßig beraten. Geschieht dies wie im verhandelten Fall nicht, ist der Betroffene über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch im Nachhinein so zu stellen, als hätte er den Antrag für seine Zwecke optimal terminiert. Auch die Bundesagentur für Arbeit hält die Rücknahme eines Antrags bis zur bestandskräftigen Entscheidung (noch) für rechtmäßig (vgl. Fachlicher Hinweis § 37 Rdnr. 37.8; Stand 10.5 2015). Letzteres wird sich sicherlich in Zukunft ändern.
Die zentrale Argumentation des Landessozialgerichts lautete im Jahr 2014: „Durch die Dispositionsfreiheit bei der Antragstellung hat der Betroffene auch das Recht, seinen Leistungsanspruch im Rahmen der Gesetze zu optimieren. Er handelt nicht rechtsmissbräuchlich. Nach § 2 Abs. 2 SGB I haben Sozialbehörden sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Der Leistungsträger ist gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I verpflichtet, darauf hinwirken, dass jeder Leistungsberechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen umfassend erhält“(LSG Bayern L 7 AS 642/12 vom 27.2.2014).
Nun heißt es im sogenannten Terminbericht des Bundessozialgerichts: „Die Bestimmung, ob ein Zufluss materiell-rechtlich als Einkommen oder als Vermögen im Sinne einer Voraussetzung für das Vorliegen von Hilfebedürftigkeit zu werten ist, unterliegt wenn sich der Antragsteller durch den Antrag in das Regime des SGB II begeben hat nicht mehr dessen rechtlicher Disposition, zumindest nicht innerhalb des Antragsmonats. Aus diesem Grunde kann der Kläger sein Begehren, anders als vom LSG angenommen, auch nicht auf einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch stützen. Es handelt sich hier bei der »Verschiebung der Wirkung des Antrags« nicht um eine rechtlich zulässige Gestaltungsmöglichkeit“(Bundessozialgericht: Terminbericht Nr. 17/15).
Wenn das Bundessozialgericht dem Bayerischen Landessozialgericht gefolgt wäre, hätte es zugeben müssen, dass einige frühere Entscheidungen des Bundessozialgerichts nicht rechtmäßig gewesen wären, da das höchste Sozialgericht die Möglichkeit der Antragsrücknahme bisher nie erwogen hat. Argumente für dieses restriktive Sonderrecht, dem SGB II-Antragsteller/innen unterliegen sollen, nennt das Bundessozialgericht im Terminbericht nicht. Es liegt auch in anderen Sozialrechtsbereichen in der Natur der Sache, dass die Antragsrücknahme in der Regel dann erfolgt, wenn sie zu günstigeren Ergebnissen führt (zur Möglichkeit der Antragsrücknahme allgemein im Sozialrecht vgl. Wippermann-Kempf (2003): 167-180).
De facto bedeutet das Urteil, dass diejenigen, die sich rechtlich besser auskennen, im Einzelfall durch eine kluge Antragstellung höhere Leistungen erhalten als die, die die Kniffe des Sozialrechts nicht durchschauen. Diejenigen, die nicht informiert worden sind und deshalb - bezogen auf ihre Situation - beträchtliche Leistungsverluste hinnehmen müssen, werden sich betrogen vorkommen. Die verbreitete Kritik des Jobcenters als Sonderrechtszone wird durch die neue Entscheidung des Bundessozialgerichts bestätigt. Bezeichnend ist die Terminologie, dass Menschen sich per Antrag unwiderruflich in das Regime des SGB II begeben und damit Freiheitsrechte verlieren. Für Beratende bedeutet das Urteil wiederum eine hohe Verantwortung: Wird Haftentlassenen eine sofortige Antragsstellung mit sofortiger Wirkung empfohlen, können sich in Einzelfällen Nachteile ergeben. Wenn die Antragstellung im Folgemonat der Haftentlassung klüger ist, sollte dennoch der Antrag sofort nach der Entlassung gestellt werden, um möglichst zeitnah Leistungen zu erhalten. Unstrittig ist es nämlich möglich, einen Antrag für den Folgemonat zu stellen (vgl. ausführlich hierzu Eckhardt (2014): 29).
Was abzuwarten bleibt
Unklar ist angesichts des bisher nur vorliegenden Terminberichts allerdings, was das Bundessozialgericht damit meint, wenn es schreibt, dass eine Antragsrücknahme „zumindest nicht innerhalb des Antragsmonats“ möglich sei. Offenbar verknüpft das Bundessozialgericht seine Entscheidung mit dem sogenannten Monatsprinzip. Sollte sich das im Entscheidungstext bestätigen, bleibt offen, ob eine Antragsrücknahme für den gesamten Antragsmonat eventuell doch möglich ist.
Nach Vorliegen des Entscheidungstextes werde ich mich nochmals im nächsten Infodienst 2/2015 zur Entscheidung des Bundessozialgerichts äußern.
Bernd Eckhardt
Sozialpädagogische Beratung
Bernd Eckhart informiert auch in seiner Online-Publikation „sozialrecht justament“ (www.sozialrecht-justament.de) über aktuelle sozialrechtliche Informationen für die existenzsichernde Sozialberatung.
Hier finden Sie den Terminbericht des BSG.
Literatur:
Eckhardt, Bernd (2014): Die Anrechnung des Überbrückungsgeldes auf SGB II-Leistungen (Teil 2). In: Infodienst Straffälligenhilfe 22. Jg., H. 2, S. 28-30)
Wippermann-Kempf, Silke (2003): Die Bedeutung des Leistungsantrags im Sozialrecht – Dissertation, abrufbar unter: opus.bibliothek.uni-wuerzburg.de/files/614/DATEI.PDF