Sechs Prinzipien der Gesundheitsfürsorge in Haft

Stefan Enggist, Leiter des Programms „Gesundheit im Gefängnis“ (Health in Prisons Programme HIPP) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) benennt in einem Interview mit der BAG-S sechs Prinzipien der Gesundheitsfürsorge in Haft. Der Volltext des Interviews ist in unserer nächsten Ausgabe des BAG-S Informationsdienst Straffälligenhilfe 1/2013 veröffentlicht, in der es um "Gesundheit und Krankheit im Strafvollzug und in der Straffälligenhilfe" geht. Das Heft erscheint voraussichtlich Mitte Juni.

BAG-S: Wie sieht Ihre Vision einer Gesundheitsversorgung für Gefangene aus?

ENGGIST: Ich denke, dass es sechs Prinzipien gibt, die einer guten Gesundheitsfürsorge von Gefangenen dienen und überall umgesetzt werden müssen.

Erstens: Staaten müssen anerkennen, dass sie denjenigen, denen sie die Freiheit entziehen, eine besonders starke Verantwortung in Bezug auf deren Gesundheit schulden. Das bedeutet, dass ein Staat alles Erdenkliche und vernünftigerweise Mögliche unternehmen muss, um die inhaftierte Person vor Gesundheitsrisiken zu schützen. Wird ein Gefangener krank und kann ein Staat die nötige Gesundheitsvorsorge nicht nachweisen,  dann ist er für die Erkrankungen von Inhaftierten verantwortlich. Diese Fürsorgepflicht ist ein erstes Prinzip, das anerkannt werden muss.

Zweitens müssen alle Staaten anerkennen, dass Inhaftierte zwar ihre Freiheit verlieren, aber nie ihr Recht auf Gesundheit. Dieses Recht  bleibt in gleicher Weise bestehen, wie bei allen anderen Menschen, die in Freiheit leben.  

Das dritte Prinzip, das ich für wesentlich erachte, zielt darauf, dass das Gesundheits-fachpersonal im Gefängnis nur eine einzige Aufgabe hat, nämlich die Gesundheit der Inhaftierten zu schützen. Es kommt in viel zu vielen Staaten weiterhin vor, dass Gesundheitspersonal auch in disziplinarische Maßnahmen eingebunden wird, beispielsweise wenn ein Arzt gebeten wird zu beurteilen, ob ein Häftling für die Isolationshaft geeignet sei.

BAG-S: Was natürlich Loyalitätskonflikte zur Folge hat...

ENGGIST: Genau! Gesundheitspersonal sollte nicht Loyalitätskonflikten ausgesetzt werden. Das ist das dritte Prinzip.

Und daraus folgt das vierte Prinzip: Das Gesundheitspersonal sollte immer unabhängig von den Gefängnisbehörden sein. Gleichwohl sollte es unter Wahrung des Vertrauensschutzes mit dem Strafvollzug zusammenarbeiten.

Fünftes Prinzip: Die Gesundheitsfürsorge in Haft sollte mindestens so gut wie die Gesundheitsfürsorge in Freiheit sein. Warum mindestens so gut? Weil alle Studien zeigen, dass Gefangene überdurchschnittlich stark von Krankheiten betroffen sind und deshalb eigentlich einer stärkeren und größeren Gesundheitsfürsorge bedürfen als die Menschen außerhalb der Haft. Und das hat auch mit dem erwähnten staatlichen Fürsorgeprinzip zu tun.

Ein letztes Prinzip:  Es wäre sehr zu begrüßen, wenn die Gesundheitsbehörden in den einzelnen Staaten sich für die Gesundheit der Gefangenen verantwortlich fühlen und diese sogar administrieren würden. So liessen sich die Probleme im Zusammenhang mit Loyalitätskonflikten oder der nicht äquivalenten Versorgung nach und nach und wahrscheinlich dauerhaft aus der Welt schaffen. (...)

Das Interview führte Eva-Verena Kerwien
(Referentin der BAG-S)

Das vollständige Interview mit Stefan Enggist (Leiter des Programms „Gesundheit im Gefängnis“ (Health in Prisons Programme HIPP) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) finden Sie in unserer nächsten Ausgabe des Infodienstes auf den Seiten 15 - 18.