Rechtsprechung: (K)eine Gewährung von Elterngeld bei der Aufnahme von Mutter und Kind in der JVA?

Unterschiedliche Äußerungen der Sozialgerichte zu der Frage, ob auch bei der Inhaftierung einer elterngeldberechtigten Mutter, die in der JVA zusammen mit ihrem Kind lebt, diese Sozialleistung zu gewähren ist, führen zu erheblichen Unsicherheiten bei der Klientel.

 

Das Selbstverständnis des maximal bis zum 14. Lebensmonat eines Kindes beziehbaren Elterngeldes1 besteht darin, einen finanziellen Ausgleich für einen Einkommenswegfall bedingt durch die Erziehung eines Kleinkindes und die Einstellung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit zu gewährleisten. Die Höhe dieser Sozialleistung orientiert sich anhand des vor der Entbindung2 bezogenen Einkommens und beläuft sich auf mindestens monatlich 300Euro3.

Um elterngeldberechtigt zu sein, hat eine erziehungsberechtigte Person die nun folgenden Voraussetzungen zu erfüllen:

1) Der Wohnsitz4 oder gewöhnliche Aufenthalt5 hat in Deutschland zu liegen6. – Auch wenn haftbedingt die bislang bewohnte Unterkunft aufgegeben zu werden hatte, besteht weiterhin ein gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet, denn inhaftierte Menschen werden durch die Justiz zu einem Aufenthalt an einem ganz bestimmten Ort bis auf Weiteres gezwungen. Diese objektiven Gegebenheiten überlagern die von diesen Straftätern abgelehnte Form dieser Unterbringung.
2) Ausübung keiner oder keiner vollen Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt während der Erziehung des Kleinkindes7.
3) Keine Erzielung eines steuerpflichtigen Jahreseinkommens von mehr als 250.000 Euro vor dem Beginn der Elternzeit8
4) Selbstständige Betreuung und Erziehung des Kindes durch die antragstellende Person9: Dies liegt nicht vor, wenn das Kind z. B. überwiegend vollstationär untergebracht ist; eine teilstationäre Unterbringung in einer Tagesstätte steht dem aber nicht entgegen.
5) Gemeinsames Leben mit dem eigenen Kind in einem Haushalt10. – Aus den vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum „Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz – BEEG)“ herausgegebenen „Richtlinien“ geht hierzu unter der Ziff. 1.1.2.2 („Häusliche Gemeinschaft“) hervor: „Die häusliche Gemeinschaft setzt nicht voraus, dass der Antragsteller einen eigenen Haushalt hat oder dass der Wohnsitz und der Haushalt, in dem das Kind betreut wird, identisch sind. Die häusliche Gemeinschaft kann z. B. auch im Haushalt der Großeltern, einer Einrichtung für Mutter und Kind oder in einem Frauenhaus bestehen. In einer Justizvollzugsanstalt oder einer Entziehungsanstalt kann ein Haushalt dagegen nicht begründet werden …“

II) Sozialgericht Berlin, Urteil vom 21. Oktober 2011 (Az.: S 2 EG 139/08)

Der vorab zitierten Verwaltungsvorschrift, die für diejenigen öffentlichen Stellen, welche für die Umsetzung des BEEG zuständig sind, allerdings nicht rechtsverbindlich ist, begegnete das Sozialgericht Berlin in seiner Entscheidung vom 21. Oktober 2011 mit deutlicher Kritik.

Der in diesem Urteil geprägte Tenor war insbesondere der, ein Haftantritt als solcher würde keine derart durchgreifende Änderung in den persönlichen oder rechtlichen Verhältnissen von Antragsteller/innen bewirken, so dass kein Rechtsanspruch auf die Bewilligung von Elterngeld geltend gemacht werden kann.
In dem diesem Richterspruch zugrunde liegenden Fall gebar die Antragstellerin im Oktober 2007 eine Tochter und suchte im Dezember 2007 um die Gewährung von Elterngeld nach, dem das zuständige Bezirksamt auch im Januar 2008 nachkam und 300 Euro monatlich für die ersten zwölf Lebensmonate des Kindes bewilligte.
Im Juni 2008 hatte diese Antragstellerin eine mehrmonatige Haftstrafe anzutreten. Die Tochter durfte in die JVA mitgenommen werden, wo dieses Kleinkind mit seiner Mutter in einem besonderen Bereich mit einem separaten Haftraum, eigenem Bad und Gemeinschaftsküche lebte.

Die inhaftierte Mutter konnte dort ihr Kind vollkommen selbstständig versorgen, weil sie für diese Tochter Kindergeld und Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) weiterhin erhielt.

Die JVA gewährte keine wirtschaftlichen Hilfen und wies dieser Mutter auch keine von ihr zu verrichtende Arbeit zu. Die Inhaftierte verfügte vielmehr über eine Berechtigung zum Freigang, um zusammen mit ihrer Tochter sich in ihre bisherige, weiterhin beibehaltene Wohnung zu begeben, wo sich tagsüber ihr älteres Kind aufhielt, sowie die erforderlichen Besorgungen zu erledigen.

Angesichts dieser Rahmenbedingungen erkannte das Sozialgericht Berlin darauf, in diesem Fall seien „keine sachlichen Gründe (zu) erkennen, die es rechtfertigen würden, der Klägerin das Elterngeld für ihre Tochter vorzuenthalten“. – Für diese Entscheidung waren die nun folgenden Punkte von ausschlaggebender Bedeutung:
- Der inhaftierten Mutter war die elterliche Sorge für ihr Kind während der Haftzeit allein zugewiesen und wurde innerhalb des Strafvollzugs von dieser Vorbestraften auch voll und ganz selbstständig wahrgenommen.
- Während der gesamten Haftzeit war die Mutter von ihrer Tochter nicht getrennt. Die Gegebenheiten des Strafvollzugs standen dem nicht entgegen.
- Diese Tochter erhielt nicht nur von ihrer inhaftierten Mutter „die maßgebliche emotionale Zuwendung“, sondern führte innerhalb der JVA der von diesem Gericht vertretenen Überzeugung nach auch einen gemeinsamen „Haushalt“ im Sinne des § 1 Abs. 1 Ziff. 2 BEEG: Es war diese Straftäterin, welche die ihr für die wirtschaftliche Versorgung ihrer Tochter erhaltenen Sozialleistungen selbstständig verwaltete und eigenverantwortlich einsetzte sowie für die tägliche Ernährung und Pflege ihres Kleinkindes in der Weise umfassend sorgte, so dass keine weiteren Hilfen erforderlich waren.

Das Sozialgericht Berlin pflichtete in dieser Entscheidung ausdrücklich dem Bundesfamilienministerium bei, das in seinen zum BEEG erlassenen Richtlinien unter der Ziff. 1.1.2.2 auch ausführt:

 „Leben beide Elternteile nicht zusammen in einem Haushalt, ist entscheidend für die häusliche Gemeinschaft, bei welchem Elternteil das Kind seinen Lebensmittelpunkt hat.
Maßgeblich ist, wer für die Betreuung und Erziehung des Kindes überwiegend verantwortlich ist. Ergänzend kann darauf abgestellt werden, wer im Wesentlichen für die Pflege, für die Verköstigung, Kleidung, für die ordnende Gestaltung des Tagesablaufs sorgt und wo das Kind im Wesentlichen seine emotionale Zuwendung erhält“
.
In dem am 21. Oktober 2011 entschiedenen Fall war dies der vom Sozialgericht Berlin vertretenen Überzeugung nach in der JVA bei der Mutter.

III) Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Januar 2012 (Az.: L 11 EG 2761/10)

Der vom LSG Stuttgart im Sinne einer Ablehnung des Bestehens eines Anspruchs auf die Bewilligung von Elterngeld während der Verbüßung einer Freiheitsstrafe durch die Mutter entschiedene Fall war durch grundlegend andere Gegebenheiten geprägt:

Nach der Geburt ihres Sohnes während der Haft lebte die weiterhin in Gewahrsam genommene Erziehungsberechtigte mit ihrem Kind in einer speziellen Abteilung der zentralen badenwürttembergischen JVA für Frauen.
Dort sind mehrere Mütter zusammen mit ihren Kindern untergebracht, verfügen aber jeweils zusammen mit ihrem Kind ein eigenes Zimmer. Die sanitären Anlagen und die Küche wie auch ein Aufenthaltsraum werden gemeinsam genutzt.
Die am 17. Januar 2012 vor der Berufungsinstanz unterlegene Mutter war ab dem dritten Lebensmonat ihres Sohnes im Arbeitsbereich der JVA tagsüber beschäftigt. – Während dieser Zeit war ihr Kind außerhalb des Anstaltsgeländes in einem speziellen Hort untergebracht.
Die Kosten dieser Kindertagesstätte wie auch der gemeinsamen Unterbringung des Kindes bei seiner Mutter trug das Jugendamt. Dieser Jugendhilfeträger ließ sich zur Finanzierung dieser besonderen Leistung die Ansprüche auf die Gewährung von Kindergeld und Leistungen nach dem UVG (der Kindsvater war ebenfalls inhaftiert) abtreten:  Entsprechende Gelder standen der Mutter in keiner Weise frei zur Verfügung.
Abends und in der Nacht waren Mutter und Sohn stets zusammen untergebracht.

Die nun folgenden Punkte sprachen der vom LSG Baden-Württemberg vertretenen Haltung nach gegen den geltend gemachten Rechtsanspruch auf Gewährung von Elterngeld:
- Nicht die inhaftierte Mutter, deren in der JVA verdienter Lohn sehr niedrig war, sondern die öffentliche Jugendhilfe kam über von ihr nach dem SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) bewilligte Leistungen für die Versorgung des Kindes während des Freiheitsentzugs der Mutter auf.
- Diese Erziehungsberechtigte hatte keinen Einfluss auf die Bestimmung des zeitlichen und räumlichen Zusammenlebens mit ihrem Kind. – Innerhalb der JVA war die Lebensführung der Straftäterin weitgehend durch die Vorgaben der Justiz bestimmt.

Der von der Berufungsinstanz in dieser Entscheidung geprägte Tenor war deshalb der, bei solchen Gegebenheiten wäre eine selbstständige Führung und Organisation eines eigenen Haushalts im Sinne des § 1 Abs. 1 Ziff. 2 BEEG objektiv nicht möglich.

 IV) Sozialgericht Würzburg, Urteil vom 10. September 2010 (Az.: S 4 EG 15/10)

Der Entscheidung des LSG Baden-Württemberg ging das auf einer gleichen Linie liegende Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 10. September 2010 voraus:

In dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Fall waren die vorbestraften Eltern des Kleinkindes vollstationär in einer Rehabilitationseinrichtung für drogenabhängige Personen untergebracht. Im Rahmen der dort durchgeführten, länger angesetzten Familientherapie konnte das Kind in dieser Einrichtung mit aufgenommen werden. – Unter Berücksichtigung der dortigen Gegebenheiten wie auch der Therapiegestaltung vertrat das Sozialgericht Würzburg die Einschätzung, während dieser Phase sei der Haushaltsbegriff des § 1 Abs. 1 Ziff. 2 BEEG nicht erfüllt gewesen:

Auch dort wurde die Betreuung dieses Kindes im erheblichen Maße durch Dritte durchgeführt, weil die Durchführung des Rehabilitationsprozesses, in den die Eltern obligatorisch eingebunden waren, dies erforderte.

Das Sozialgericht Würzburg war in dieser Entscheidung allerdings bereit, für die Zeit ab der Verlegung von Eltern und Kind in eine Außenwohngruppe dieser Rehabilitationseinrichtung – ein im Rahmen des gesamten Behandlungsprozesses geplanter und wichtiger Schritt zur Verselbstständigung suchtkranker Personen – einen Anspruch auf Elterngeld zu bejahen. – Für dieses Meinungsbild waren wiederum streng einzelfallabhängige Aspekte von maßgeblicher Bedeutung wie
- das Bestehen einer diesen Personen zugewiesenen eigenen Wohnung;
- keine regelmäßige Anwesenheit von Personal der Suchthilfeeinrichtung in dieser Unterkunft;
- an den Tagen, wo die Eltern die Therapiestunden innerhalb der Einrichtung zu besuchen hatten, musste das Kleinkind nur für Teilzeiträume von dritten Personen beaufsichtigt und versorgt werden, sowie
- in Bezug auf die wirtschaftliche Versorgung dieser Personen organisierte die Rehabilitationseinrichtung zwar einen zentralen Einkauf, stellte aber den Eltern die für ein eigenständiges Wirtschaften benötigten Waren stets wöchentlich zur Verfügung.
Der in diesem Urteil zum Ausdruck gelangenden Einschätzung nach war von einem Vorliegen eines Haushalts im Sinne des § 1 Abs. 1 Ziff. 2 BEEG zwar nicht während der von den Eltern durchlaufenen vollstationären Behandlungsphase, wohl aber während der Zeit ihres Aufenthalts innerhalb des Außenwohnbereichs auszugehen:
Hinsichtlich dieses Rehabilitationsabschnitts wurde deshalb auf eine Leistungsberechtigung entsprechend § 1 BEEG erkannt.

 V) Zusammenfassung

Mit „Kein Elterngeld für Mütter hinter Gittern“ waren die Agenturmeldungen überschrieben, wo über das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 17. Januar 2012 berichtet wurde11. – Diese Aussage ist in ihrer Absolutheit genauso wenig sachlich zutreffend wie die zum Haushaltsbegriff des § 1 Abs. 1 Ziff. 2 BEEG in den von der zuständigen obersten Bundesbehörde herausgegebenen Richtlinien zur Bewertung des Aufenthalts in einer JVA getätigten Ausführungen

Es hat hier vielmehr stets darauf abgestellt zu werden, wie im Einzelfall auf Veranlassung der Justiz Mutter und Kind untergebracht sind, wer mit welchen Mitteln überwiegend für das Kleinkind sorgt und in welcher Form die Tagesstruktur von der Justiz verbindlich vorgegeben ist.

Bei einer freizügigen Ausgestaltung des Strafvollzugs, wo die Mutter insbesondere über die Möglichkeit verfügt, sich umfassend und eigenverantwortlich sowie unter Einsatz ihr zur freien Verwendung zur Verfügung gestellter Mittel ihr Kind zu erziehen, kann durchaus ein Bestehen eines gemeinsamen Haushalts und damit eine Elterngeldberechtigung bejaht werden.

 Dr. Manfred Hammel
Caritasverband für Stuttgart e. V.
(Der Artikel erschien ebenfalls in der Ausgabe 1/2012 des BAG-S Informationsdienstes Straffälligenhilfe (S.14-15): www.bag-s.de/materialien/infodienst)

 1 § 4 Abs. 1 Satz 1 BEEG
2
Vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 BEEG: „… wird in Höhe von 67 Prozent des in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat der Geburt des Kindes durchschnittlich erzielten monatlichen Einkommens aus Erwerbstätigkeit bis zu einem Höchstbetrag von 1.800 Euro monatlich für volle Monate gezahlt, in denen die berechtigte Person kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielt“.
3
§ 2 Abs. 5 Satz 1 BEEG
4
§ 30 Abs. 3 Satz 1 SGB I: „Einen Wohnsitz hat jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird“.
5
§ 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I: „Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt“.
6
§ 1 Abs. 1 Ziff. 1 BEEG
7 § 1 Abs. 1 Ziff. 4 BEEG; § 1 Abs. 6 BEEG: „Eine Person ist nicht voll erwerbstätig, wenn ihre wöchentliche Arbeitszeit 30 Wochenstunden im Durchschnitt des Monats nicht übersteigt, sie eine Beschäftigung zur Berufsbildung ausübt oder sie eine geeignete Tagespflegeperson im Sinne des § 23 SGB VIII ist und nicht mehr als fünf Kinder in Tagespflege betreut“.
8
§ 1 Abs. 8 Satz 1 BEEG
9
§ 1 Abs. 1 Ziff. 3 BEEG
10
§ 1 Abs. 1 Ziff. 2 BEEG
11
Vgl. epd sozial vom 10. Februar 2012 (Nr. 6), Seite 13.