Nachträgliche Therapieunterbringung

Die BAG-S hat den Brief an den neuen Justizminister Heiko Maas mitgezeichnet, in dem gefordert wird, das „gesamte Maßregelrecht einer gründlichen - am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierten - Prüfung zu unterziehen und insbesondere von einer weiteren Ausdehnung der Sicherungsverwahrung, verkappt als Therapieunterbringung, abzusehen.“

Der folgende Offene Brief ist am 12.12.2013 an die amtierende Bundesjustizministerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, abgeschickt worden, mit der freundlichen Bitte um Weiterleitung an ihren Nachfolger bzw. ihre Nachfolgerin.

Dortmund, 30.11.2013

Sehr geehrte Frau Justizministerin/sehr geehrter Herr Justizminister,
im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD ist unter Ziff. 5.1. vorgesehen:
"Zum Schutz der Bevölkerung vor höchstgefährlichen, psychisch gestörten Gewalt- und Sexualstraftätern, deren besondere Gefährlichkeit sich erst während der Strafhaft herausstellt, schaffen wir die Möglichkeit der nachträglichen Therapieunterbringung.“ Wir sind ein Arbeitskreis aus Wissenschaft und Praxis, der sich seit einem Jahr mit den Entwicklungen im Bereich der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung kritisch auseinandersetzt. Das Vorhaben einer nachträglichen Therapieunterbringung lehnen wir nachdrücklich ab. Gegen deren Einführung sprechen insbesondere die folgenden Gründe:

1. Umetikettierung:
Mit der „nachträglichen Therapieunterbringung“ würde die „nachträgliche Sicherungsverwahrung“ unter einem anderen Namen wiedereingeführt (vgl. auch § 2 Abs. 2 ThUG i.d. Fassung vom 05.12.2012 mit der Unterbringungsmöglichkeit in der Sicherungsverwahrung), obwohl dieses Instrument sich nach übereinstimmender Auffassung in Wissenschaft und Praxis nicht bewährt hat, für den Schutz der Allgemeinheit nicht erforderlich ist und daher folgerichtig vor kurzem (fast) vollständig abgeschafft wurde.
 
2. Widersprüchlichkeit:
Die Einführung der nachträglichen Therapieunterbringung widerspräche dem Grundgedanken der im Jahr 2010 beschlossenen Reform des Sicherungsverwahrungsrechts, wonach die vorbehaltene Sicherungsverwahrung die nachträgliche Unterbringung überflüssig machen sollte. Da der Anwendungsbereich vorbehaltener Sicherungsverwahrung zu diesem Zweck erheblich ausgedehnt wurde, bestünden nach der Erweiterung der Therapieunterbringung sogar mehr Möglichkeiten zur Anordnung einer gefährlichkeitsbedingt unbefristeten Unterbringung als vor der Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung. Darin läge zugleich ein grundlegender Widerspruch zu dem mit der nämlichen Reform verfolgten Ziel, die Unterbringungsmöglichkeiten im Sinne des ultima-ratio-Gedankens insgesamt einzuschränken.
 
3. Netz-Erweiterung:
Stattdessen würde an die in den vergangenen beiden Jahrzehnten zu beobachtende bedenkliche Entwicklung, unbefristete Formen der Unterbringung auszudehnen, angeknüpft. Das stünde auch im Widerspruch zu der ebenfalls unter Ziff. 5.1. des Koalitionsvertrages aufgeführten Absicht, das Recht der strafrechtlichen Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern dergestalt zu reformieren, dass insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stärker zur Wirkung verholfen wird.
 
4. Menschenrechtswidrigkeit:
Die Einführung einer zusätzlichen nachträglichen Unterbringung ist auch angesichts des EGMR- Urteils vom 28.11.2013 (Glien gegen Deutschland, Beschwerde-Nr. 7345/12) höchst fragwürdig. Der EGMR weist in seiner Entscheidung darauf hin, dass der Begriff "unsound mind" eine Geistesstörung von einiger Schwere voraussetzt und deshalb enger sein dürfte als der einer bloßen "psychischen Störung" im Sinne des Therapieunterbringungsgesetzes.
 
5. Vorrangigkeit des Erkenntnisverfahrens:
Bei der nachträglichen Therapieunterbringung soll es nicht mehr zwingend auf erst im Vollzug der Freiheitsstrafe erkennbar gewordene Tatsachen („nova“) ankommen. Ausreichend sein soll vielmehr eine während des Strafvollzugs festgestellte besondere Gefährlichkeit aufgrund einer diagnostizierten psychischen Störung. Da diese aber zumeist bereits im Zeitpunkt der Verurteilung bestanden haben wird, begründete die nachträgliche Therapieunterbringung auch einen Verstoß gegen den von Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof bei § 66b StGB a.F. betonten Grundsatz der Vorrangigkeit des Erkenntnisverfahrens bzw. gegen das Verbot einer Korrektur rechtskräftiger Entscheidungen.
 
6. Prognoseproblem:
Die Rückfalluntersuchungen von Alex, Kinzig, Müller/Stolpmann* belegen, dass für hoch gefährlich gehaltene Sexual- und Gewaltstraftäter nur selten erneut mit einschlägigen Rückfalltaten auffallen. Dies weist darauf hin, dass nach wie vor erhebliche  Unsicherheiten bei Kriminalprognosen bestehen. Diese Unsicherheiten sind bei nachträglichen Unterbringungsentscheidungen sogar besonders groß, weil dem prognostisch wenig aussagekräftigen Vollzugsverhalten zwangsläufig zentrale Bedeutung zukommt.

* Alex, Michael: Nachträgliche Sicherungsverwahrung – ein rechtsstaatliches und kriminalpolitisches Debakel. 2. Aufl., Holzkirchen 2013; Kinzig, Jörg: Die Legalbewährung gefährlicher Rückfalltäter. 2. Aufl., Freiburg 2010; Müller, Jürgen. L. und Georg Stolpmann: Untersuchung der nicht angeordneten Sicherungsverwahrung – Implikationen für die Neuregelung der Sicherungsverwahrung. In: Müller, Jürgen L.; Nedopil, Norbert; Saimeh, Nahlah; Habermeyer, Elmar; Falkai, Peter (Hrsg.): Sicherungsverwahrung wissenschaftliche Basis und Positionsbestimmung. Berlin 2012. 


7. Klimaverschlechterung im Vollzug:
Zwingende Folge der (Wieder-)Einführung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung/Therapieunterbringung wären erneuterhebliche Belastungen für den Strafvollzug durch hohen bürokratischen Aufwand, Verunsicherung von tausenden Strafgefangenen, welche die formellen Voraussetzungen der Therapieunterbringung erfüllen, und Behinderung von Resozialisierungsmaßnahmen (double-bind für Gefangene).  
 
8. Sanktionierung von Haftschäden:
Zudem würde Gefährlichkeit ausschließlich den Gefangenen angelastet, obwohl sie in erheblichem Maße eine Folge von iatrogenen, d.h. dem Vollzug zuzurechnenden Faktoren darstellt.
 
9.Schlechterstellung im Strafvollzug:
Der vom BVerfG in seinem Urteil vom 04.05.2011 betonte „ultima-ratio-Grundsatz“ besagt, dass Strafgefangene Anspruch auf eine intensive und individuelle Betreuung haben, wenn ihnen die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung droht. Während des Strafvollzugs muss alles dafür getan werden, um die Maßregelvollstreckung noch zu vermeiden. Diesem Grundsatz könnte  bei der nachträglichen Unterbringung nicht Rechnung getragen werden, weil deren Anordnung erst zum Ende des Strafvollzugs erfolgt. Strafgefangene, gegen welche die Unterbringung nachträglich angeordnet würde, stünden daher sogar deutlich schlechter als solche mit angeordneter oder vorbehaltener Sicherungsverwahrung (§ 66 c Abs. 2 StGB),
 
10. Stigmatisierung psychisch Kranker:
Zurecht haben deutsche Psychiater* die Ausweitung psychiatrischer Diagnosen zu sicherheitspolitischen Zwecken als Missbrauch der Psychiatrie bezeichnet und vor der mit der Gleichsetzung von Gefährlichkeit und psychischer Störung verbundenen Stigmatisierung psychisch Kranker gewarnt.
* http://www.dgppn.de/fileadmin/user_upload/_medien/download/pdf/stellungnahmen/2011/stn-2011-02-10-sicherungsverwahrung.pdf
 
Wir fordern Sie deshalb auf, das gesamte Maßregelrecht einer gründlichen - am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierten - Prüfung zu unterziehen und insbesondere von einer weiteren Ausdehnung der Sicherungsverwahrung, verkappt als Therapieunterbringung, abzusehen.

Mit freundlichen Grüßen:

Erstunterzeichner
Dr. Michael Alex, freier Mitarbeiter, Universität Bochum
Peter Asprion, Bewährungshelfer, Freiburg
Dr. Tillmann Bartsch, Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen, Hannover
Prof. i.R. Dr. Lorenz Böllinger, Universität Bremen
Dr. Axel Boetticher, Richter am Bundesgerichtshof (i.R.), Bremen
Prof. Dr. Hauke Brettel, Universität Marburg
RA Dr. Sven-Uwe Burkhardt, Strafverteidiger, Dortmund
Prof. Dr. Heinz Cornel, Alice Salomon Hochschule, Berlin
P. Günter Danek, Sozialreferent (i.R.),Viersen
Prof. Dr. Axel Dessecker, Kriminologische Zentralstelle, Wiesbaden
Prof. Dr. Kirstin Drenkhahn, Freie Universität Berlin
Prof. em. Dr. Ulrich Eisenberg, Freie Universität Berlin
Prof. i.R. Dr. Johannes Feest, Universität Bremen
Prof. Dr. Thomas Feltes, Universität Bochum
Jochen Goerdeler, Staatsanwalt, Kiel
Prof. Dr. Christine Graebsch, Fachhochschule Dortmund
RAin Lisa Grüter, Strafverteidigerin, Dortmund
Akad. Rat Dr. Stefan Harrendorf, Universität Göttingen
Prof. Dr. Katrin Höffler, Universität Göttingen
Dr. Heinz Kammeier, Lehrbeauftragter, Universität Witten/Herdecke
Prof. Dr. Johannes Kaspar, Universität Augsburg
Prof. Dr. Jörg Kinzig, Universität Tübingen
VRiLG Matthias Koller, Landgericht Göttingen
Prof. em. Dr. Arthur Kreuzer, Universität Gießen
Christfried Kühne, Diplomsozialarbeiter/-pädagoge im Justizvollzug Niedersachsen
Prof. Dr. Helmut Kury, Universität Freiburg
RiOLG Dr. Wolfgang Lesting, OLG Oldenburg
Dr. Christine Morgenstern, Wiss. Mitarbeiterin, Universität Greifswald
Prof. Dr. Henning Ernst Müller, Universität Regensburg
Prof. Dr. Jürgen Müller, Asklepios Fachklinikum Göttingen
Prof. em. Dr. Norbert Nedopil, Universität München
Prof. Dr. Christian Pfeiffer, Direktor, Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen
Privatdozent Dr. Helmut Pollähne, Strafverteidiger, Bremen
Prof. Dr. Joachim Renzikowski, Universität Halle
RA Sebastian Scharmer, Strafverteidiger, Berlin
Pfr. Adrian Tillmanns, Seelsorger JVA Werl, Beauftragter der Ev. Bundeskonferenz für SV
RA Dr. Joachim Walter, ehem. Anstaltsleiter der JVA Adelsheim
Cornelius Wichmann, Diplompädagoge, Freiburg
RAin Dr. Ines Woynar, Strafverteidigerin, Hamburg

Weitere Unterzeichner
12.12.2013
Arbeitskreis kritischer Strafvollzug (AkS), Münster
13.12.2013
Thomas Lippert, Forensischer Psychiater, Nürnberg
Prof. Werner Nickolai, Katholische Hochschule, Freiburg
14.12.2013
Horst Ihloff, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Forensische Psychiatrie, Berlin
Arbeitskreis Freiberuflicher Psychiatrischer und Psychologischer Sachverständiger (AfppS) e.V.
15.12.2013
Dr.med Wilhelm Tophinke, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Forens. Psychiatrie, Hamburg
Karl-Heinz Bredlow, ehemaliger Anstaltsleiter der JVA Iserlohn
16.12.2013
Dr. Stephan Suhling, Diplom-Psychologe, Celle
17.12.2013
RAin Elke Wegner, Strafverteidigerin, Bremen
Prof. Dr. Bernd-Dieter Meier, Kriminalwissenschaftliches Institut, Universität Hannover
Ass.iur.Florian Walter, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, LMU München
Andreas Werkmeister, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, LMU München
18.12.2013
Verein für Rechtshilfe im Justizvollzug des Landes Bremen e.V.
Prof. Dr. Petra Wittig, Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie, LMU München
Prof. Dr. Florian Jeßberger, Fakultät für Rechtswissenschaft, Universität Hamburg
Prof. Dr. Frank Neubacher, Institut für Kriminologie, Universität Köln
Prof. i.R. Dr. Rüdiger Lautmann, Universität Bremen
Prof. em. Dr. Stephan Quensel, Universität Bremen
19.12.2013
Prof. Dr. jur. Karl Ludwig Kunz, Universität Bern
Prof. em. Dr.Dr. h.c. Fritz Sack, Universität Hamburg
DBH Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik
Prof. Dr. Bernd Maelicke, Leuphana Universität Lüneburg
Dipl.Sozialarbeiter/-pädagoge Betram Birkholz, Wohnbereichsleiter GsbW, Berlin
Dipl.Sozialarbeiter Michael Stiels-Glenn, MA, Integrativer Therapeut, MSc., Freie Praxis, Recklinghausen
Prof. i.R. Konrad Huchting, Hochschule Emden
Hans-Peter Dohmen, Remscheidt
Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe (BAG-S)
Dipl. Soz. päd. Bernd Sprenger,  Charité, Forensisch-therapeutische Ambulanz, Berlin
Prof. Dr. Ingeborg Zerbes, Universität Bremen
20.12.2013
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
Prof. Dr. Christoph Nix, Intendant am Stadttheater Konstanz und Honorarprofessor an der Univ. Bremen
Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V.
RAin Annika Hirsch, Fachanwältin für Strafrecht, Hamburg
Dr.rer.pol.habil. R. Albrecht, PhD., Bad Münstereifel
Martin Deeg, Polizeibeamter a.D., Stuttgart
Netzwerk Psychiatrie München e.V.
Gabriele Gordon, Oberstaatsanwältin a.D., Neuruppin
Wolfgang-Klaus Goga, Rentner, Berlin
Michael Hassenpflug, Pastor im Ruhestand, Meyenburg
RAin Erika Lorenz-Löblein, Sozialbetriebswirtin, München
Rudolf Sponsel, forensischer Psychologe, Erlangen
21.12.2013
Prof. Dr. Dr. Uwe Scheffler, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)

Diesem Offenen Brief kann man sich nach wie vor anschließen
per Mail an info(at)strafvollzugsarchiv.de

www.strafvollzugsarchiv.de

Er soll Anfang 2014 an den neuen Bundesjustizminister versandt werden
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