Mehr Familie wagen – für ein besseres Leben von Kindern Inhaftierter

„Wir brauchen eine Lobby für Kinder Inhaftierter!“ Mit einem deutlichen Plädoyer für die konsequente Durchsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und die Berücksichtigung der Belange und Rechte von Kindern Inhaftierter endete das Fachgespräch, zu dem die BAG für Straffälligenhilfe (BAG-S) und der Deutsche Caritasverband e.V. (DCV) am 24. September 2012 in Berlin geladen hatte. 60 Expertinnen und Experten aus Politik, Sozialarbeit, Justizvollzugsanstalten, Ministerien, Hochschulen, Wohlfahrtsverbänden und Anlaufstellen der Freien Straffälligenhilfe tauschten sich über die Situation von Kindern mit inhaftierten Eltern aus.

Circa 100.000 Kinder unter 18 Jahren sind von der Inhaftierung eines Elternteils betroffen, berichtete PD Dr. Matthias Schützwohl von der Universitätsklinik der TU Dresden. Er stellte erste Ergebnisse eines von der EU finanzierten Forschungsprojektes in mehreren europäischen Staaten vor, das die Situation von Kindern Inhaftierter untersuchte. Zwischen 30 und 50 Prozent dieser Kinder sind durch die familiäre Situation emotional belastet oder verhaltensauffällig. Scham, Angst vor Verlust der Eltern, Ausgrenzungserfahrungen und materielle Not stellen für die betroffenen Kinder eine große psychische Belastung dar.

Das Fachgespräch machte deutlich, wie sehr Kinder in dieser Situation leiden und wie wenig dies bisher in Öffentlichkeit und Politik beachtet wird. Auch Bundessozialministerin Ursula von der Leyen betonte in ihrem Grußwort, dass die Belange der Kinder inhaftierter Eltern in der öffentlichen Debatte bisher zu kurz gekommen seien. Gleichzeitig dankte sie der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe für ihre Initiative, gemeinsam darüber nachzudenken, wie den betroffenen Mädchen und Jungen besser als bisher geholfen werden könnte. Wörtlich sagte sie: „Ich hoffe, dass aus dem heutigen Fachgespräch Impulse erwachsen, sich vermehrt um diese vernachlässigte Fragestellung zu kümmern."

Einmal gibt es deutlich zu wenige Hilfeangebote, die auf die Situation von Kindern und deren inhaftierten Eltern zugeschnitten sind. Forscher Matthias Schützwohl: „Wir können aufgrund dieser Studie erstmals mit umfassenden Daten zeigen, dass ein großer Prozentsatz der Kinder individualisierte Unterstützung braucht. Dieser Hilfebedarf muss gegenwärtig als nicht ausreichend gedeckt gelten.“

Beispiele guter Praxis zeigten, wie es gehen könnte. So berichtete Michaela Strang-Kempen vom Bringdienst „KidMobil“ des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) e. V. in Berlin, wie ehrenamtliche Helferinnen und Helfer Kindern Besuche bei ihren inhaftierten Eltern ermöglichen.

Agnete Mauruschat, seit 10 Jahren Leiterin der Justizvollzugsanstalt Bützow in Mecklenburg-Vorpommern, berichtete von dem Projekt „Papa ist auf Montage“, in dem die JVA die Besuchsbedingungen familienfreundlicher gestaltet hat. Auch sie gestand, dass trotz der Innovationsfreude der JVA Bützow Familien und ihre Bedürfnisse bis dahin „nicht richtig in den Blick gekommen“ seien.

Hannah Hagerup von der dänischen Strafvollzugsbehörde berichtete aus einem Modellprojekt, mit dem in vier dänischen Justizvollzugsanstalten Kinderbeauftragte eingesetzt wurden. Die Kinderbeauftragten haben viele kleine Initiativen für einen familiensensibleren Vollzug angestoßen.

So wurden Besuchsräume mit Kuschelecken und Spielzeug ausgestattet und Eingangsbereiche verschönert, Poster mit einer kindgerechten Erklärung der Leibesvisitation, Fotos von den nicht zugänglichen Teilen der Haftanstalt oder persönliche Fotobücher mildern die Sorgen, ob es dem Vater auch gut geht oder die Sehnsucht zwischen den Besuchen. Mehr über das dänische Projekt finden Sie hier. Die kindgerechte Gestaltung, so berichtete Hannah Hagerup, habe neben der Wirkung auf die Kinder auch Effekte auf die JVA-Mitarbeiter. Sie vergessen so nie, auch immer die Perspektive der Kinder mitzudenken.

Entsprechend berichtet Melanie Mohme, die für die Anlaufstelle Freiräume bei der Diakonie für Bielefeld gGmbH zahlreiche Angebote für inhaftierte Väter und Mütter und deren Kinder organisiert, dass das fünfjährige Engagement des Vereins Spuren in den JVA hinterlassen hat: „Jetzt lächeln die Vollzugsbeamten auch, wenn die Kinder kommen“, erzählte sie.

Dr. Sabine Skutta, Teamleiterin Kinder-, Jugend- und Familienhilfe im DRK-Generalsekretariat und eine der Sprecher der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland, mahnte eindringlich den Vorrang des Kindeswohls bei allen gesetzlichen Regelungen an. Bisher werde dies aber ebenso wenig berücksichtigt wie das Recht der Kinder auf Beteiligung. Die Diskussion um ein neues Strafvollzugsgesetz, die in vielen Bundesländern geführt wird, zeige dies deutlich und sei gleichzeitig eine Chance, für eine rechtliche Verankerung zu sorgen.

Die Bundestagsabgeordnete Katja Dörner, kinder- und familienpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, betonte, dass es Sache der Bundesregierung  sei, die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention anzumahnen, auch wenn der Strafvollzug Ländersache sei. Sie wünschte sich, dass die Belange von Kindern von Inhaftierten Thema der Gespräche zwischen Bund und Ländern werde und eine größere politische Relevanz bekämen.

Zwar täte sich etwas in den Ländern, so Prof. Dr. Rüdiger Wulf, Leiter des Referats Vollzugsgestaltung im Justizministerium Baden-Württemberg, aber das Thema trete erst langsam in den Fokus auch der Justizbehörden. Deren Mitarbeit und Verantwortung wurde vor allem aus dem Publikum angefordert.

Theresia Wunderlich, Leiterin der Abteilung Soziales und Gesundheit im Deutschen Caritasverband Freiburg, formulierte daraufhin das Motto der Veranstaltung – ‚Familie wagen’ – um: Familien seien kein Sicherheitsrisiko, sagte sie, sondern für den Strafvollzug und für eine gelingende Resozialisierung ein Gewinn. Sie forderte eine Regelausstattung für jede JVA, um familienfreundliche Bedingungen zu schaffen.

Damit schloss sich der Kreis: Alle beteiligten waren sich in dem einig, was Matthias Schützwohl auf den Punkt brachte: Entscheidend für die weitere Entwicklung werde sein, dass Verantwortlichkeiten definiert und Strukturen gebildet werden. Das aber könne nur gelingen, „wenn der Hilfebedarf dieser Kinder endlich allgemein anerkannt wird.“

Dr. Klaus Roggenthin, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe kündigte an, dass die Fachorganisation weiterhin daran arbeiten werde, dass sich alle beteiligten Akteure aus Politik, Verwaltung, Forschung und Sozialer Arbeit vernetzen und jeweils ihren Teil dazu beitragen, die Lebenssituation von den betroffenen Mädchen und Jungen zu verbessern.

Fotos: Anke Jacob/ www.anke-jacob.de