Anwartschaftszeit bei einem Versicherungspflichtverhältnis als Gefangener (§§ 142, 26 SGB III)
Es ist kein sachlicher Grund erkennbar, die Anwartschaftszeit und damit den Arbeitslosengeldanspruch von Gefangenen, die in einem öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnis eigener Art gegen Arbeitsentgelt arbeiten und der Versicherungspflicht gemäß § 26 Abs. 1 Nr. 4 SGB Ill unterliegen, anders zu behandeln als bei Arbeitnehmern, die in einem reinen Beschäftigungsverhältnis gegen Arbeitsentgelt arbeiten und gemäß §§ 24, 25 SGB Ill versicherungspflichtig sind.
Sachverhalt:
Streitig ist, ob der Kläger durch seine versicherungspflichtige Arbeit, die er während einer Haftzeit ausgeübt hat, die erforderliche Anwartschaftszeit für den Anspruch auf Arbeitslosengeld erfüllt hat. ... Entgegen der bis zum August 2012 gängigen Praxis, wonach in der Arbeitsbescheinigung nach § 312 Abs. 4 SGB Ill gemäß den Ausfüllhinweisen der Beklagten, arbeitsfreie Samstage, Sonntage und gesetzliche Wochenfeiertage, die innerhalb eines zusammenhängenden Arbeits- oder Ausbildungsabschnitts liegen, nicht aus der versicherungspflichtigen Zeit heraus zurechnen sind" (...), forderte die Beklagte in ihren neuen Ausfüllhinweisen zur Arbeitsbescheinigung die Justizvollzugsanstalten dazu auf, arbeitsfreie Tage ohne Anspruch auf Arbeitsentgelt nicht zu bescheinigen (...).
Dementsprechend bescheinigte die JVA X für den Kläger mit den Arbeitsbescheinigungen vom 10.06.2013 (...) für den Zeitraum vom 09.05.2012 bis 19.04.2013 insgesamt 315 versicherungspflichtige Arbeitstage und für den Zeitraum vom 22.04.2013 bis 07.06.2013 insgesamt
27 versicherungsptlichtige Arbeitstage.
Am Tag seiner Haftentlassung (11.06.2013) meldete sich der Kläger bei der Beklagten arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Arbeitslosengeld ab 12.06.2013.
Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 24.06.2013 ab. ... Den hiergegen fristgemäß eingelegten Widerspruch, mit dem der Kläger geltend machte, seines Erachtens seien die Arbeitstage in der JVA falsch berechnet, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 08.07.2013 als unbegründet zurück. Die Anwartschaftszeit erfülle gemäß § 142 Abs. 1 SGB Ill nur, wer in der Rahmenfrist von 2 Jahren ab dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld (§ 143 Abs. 1 SGB Ill) mindestens 12 Monate, d.h. 360 Kalendertage (§ 339 Satz 2 SGB Ill) in einem Versicherungspflichtverhaltnis gestanden hat. lnnerhalb der für den Kläger geltenden Rahmenfrist vom 12.06.2011 bis 11.06.2013 seien jedoch nur 342 Kalendertage berücksichtigungsfähig, in denen der Kläger versicherungspflichtig i.S.d. § 24, 26 und 28a SGB Ill gewesen sei. ...
Gründe:
... Die zulassige Klage ist begründet.
Der ablehnende Bescheid vom 24.06.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.07.2013 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten gemäß § 54 Abs. 2 SGG. Er hat gemäß §§ 137, 138 ff. SGB Ill einen Anspruch auf Arbeitslosengeld in gesetzlicher Höhe ab 12.06.2013 für die gesetzliche Dauer.
Gemäß §§ 137, 138 SGB Ill haben Anspruch auf Arbeitslosengeld Arbeitnehmer, die arbeitslos sind, sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet haben und die Anwartschaftszeit erfüllt haben. Nach § 142 SGB Ill hat die Anwartschaftszeit erfüllt, wer in der Rahmenfrist mindestens 12 Monate in einem Versicherungspflichtverhaltnis gestanden hat. Nach § 143 Abs. 1 SGB Ill betragt die Rahmenfrist zwei Jahre und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung einer sonstigen Voraussetzung für den Anspruch auf Alg. Nach den genannten Vorschriften berechnet sich mithin aufgrund der Arbeitslosmeldung und Antragstellung zum 12.06.2013 die Rahmenfrist vom 12.06.2011 bis 11.06.2013.
Entgegen der Ansicht der Beklagten hat der Klager innerhalb dieser zweijährigen Rahmenfrist auch für mindestens 12 Monate (= 360 Tage, vgl. § 339 S. 2 SGB Ill) in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden.
Zwar scheidet ein Versicherungspflichtverhältnis als Beschäftigter nach §§ 24, 25 SGB Ill aus, weil der Kläger als Gefangener trotz Arbeitsleistung und Entlohnung zugewiesene Arbeit nicht in einem freien Beschäftigungsverhältnis verrichtet hat, sondern vielmehr in einem öffentlich-rechtlichen Beschäfttigungsverhältnis eigener Art (vgL BSG Beschluss vom 05.12.2001 Az: B 7 AL 74/01 B). Allerdings erfüllt der Kläger den Sondertatbestand der Versicherungspflicht gemäß § 26 Abs. 1 Nr. 4 SGB Ill, wonach Gefangene, die Arbeitsentgelt erhalten, versicherungspflichtig sind.
Entgegen ihrer Rechtsauslegung bis August 2012 legt die Beklagte ab diesem Zeitpunkt den Wortlaut dieser Vorschrift dahingehend aus, dass nur noch die Tage anwartschaftsbegründend seien, für die tatsächlich Arbeitsentgelt gezahlt wurde und begründet dies mit einem Vergleich zum Wortlaut der §§ 24, 25 SGB Ill, wonach versicherungspflichtig die Personen sind, die gegen Arbeitsentgelt oder zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt sind.
Allerdings rechtfertigt der Wortlaut der eben zitierten Vorschriften nicht die unterschiedliche Behandlung von Gefangenen, die ihre Arbeit gegen Entlohnung in einem öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnis eigener Art verrichten und Arbeitnehmern, die ihre Arbeitsleistung gegen Entlohnung in einem freien Beschäftigungsverhältnis verrichten.
Auch § 25 Abs. 1 SGB Ill stellt darauf ab, dass versicherungspflichtig die Personen sind, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind. Der Wortlaut des § 26 Abs. 1 Nr. 4, wonach Gefangene, die Arbeitsentgelt erhalten, versicherungspflichtig sind, unterscheidet sich mithin zum Wortlaut des § 25 SGB Ill lediglich darin, dass nicht auf ein (freies) Beschäftigungsverhältnis abgestellt wird. Hintergrund hierfür ist,wie bereits erwähnt, allein der Umstand, dass Gefangene keine Arbeitnehmer sind, weil sie zugewiesene Arbeit verrichten und in einem öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnis eigener Art stehen (vgl. Ute Winkler in ,,info also 2/2013 Seite 92").
Es ist auch kein sachlicher Grund erkennbar, die Anwartschaftszeit und damit den Arbeitslosengeldanspruch von Gefangenen, die in einem öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnis eigener Art gegen Arbeitsentgelt arbeiten und der Versicherungspflicht gemäß § 26 Abs. 1 Nr. 4 SGB Ill unterliegen, anders zu behandeln, als Arbeitnehmer, die in einem reinen Beschäftigungsverhältnis gegen Arbeitsentgelt arbeiten und gemäß § 24, 25 SGB Ill versicherungspflichtig sind. Sind bei Letzteren arbeitsfreie Samstage und Sonntage sowie gesetzliche Wochen Feiertage, die innerhalb eines zusam menhangenden Arbeits- oder Ausbildungsabschnitts liegen, nicht aus der versicherungspflichtigen Zeit herauszurechnen (sag. ,,umfasste" allgemeine arbeitsfreie Tage) ist kein sachlich rechtlicher Grund ersichtlich, die in Abkehr der bis zum August 2012 auch bei versicherungspflichtigen Gefangenen praktizierten Berechnung nunmehr auf die Tage mit Arbeitsentgelt ohne umfasste allgemeine arbeitsfreie Tage zu beschränken.
Vielmehr spricht die Gesetzhistorie dafür, dass der Gesetzgeber mit der Einfuhrung der Versicherungspflicht fur Gefangene gemäß §26 Abs. 1 Nr.4 SGB Ill die Arbeit der Gefangenen, der Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gleichstellen wollte (vgl. BSG Urteil vom 22.03.1979 Az: B 7 RAr 98/78). So lautet etwa § 3 Abs. 1 Strafvollzugsgesetz: ,,Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden". Nach § 37 Abs. 1 Strafvollzugsgesetz hat die Arbeit in der Haft das Ziel, Fähigkeiten für eine Erwerbstätigkeit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten oder zu fordern. Die zugewiesene Arbeit soll nach § 37 Abs. 4 und 5 Straf vollzugsgesetz wirtschaftlich ergiebig, also keine sinnlose,,Strafarbeit" sein.... Hat der Gesetzgeber also gerade die Angleichung der Verhaltnisse eines arbeitenden Strafgegangenen mit denen eines in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehenden Arbeitnehmers beabsichtigt, ist vor dem Hintergrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 1 GG, also gerade kein sachlicher Grund fur die nunmehr mit der jetzigen Berechnungspraxis gegebenen Ungleichbehandlung zwischen arbeitenden Strafgefangenen und Arbeitnehmern in einem freien Beschäftigungsverhältnis gegeben.
Das BSG hat die bisherige Berücksichtigung von arbeitsfreien Wochenenden und Wochenfeiertragen als Versicherungspflichtzeiten bei Gefangenen in Anlehnung an die Situation von Arbeitnehmern auch bereits ausdrücklich gebilligt und mit der Berechnung der Beitrage für die Versicherungszeit der Gefangenen in § 1 der Gefangenen Beitragsverordnung begründet, nach der jeder Arbeitstag mit einem 250-tel der Beitragsbemessungsgrundlage für ein Jahr angesetzt wird (vgl. BSG Urteil vom 07.11.1990 Az: B 9b 7RAr 112/89; s. auch LSG NRW Urteilvom 15.10.2008, Az: L 12 AL 40/07 und vom 18.03.2003, Az: L 1 AL 18/02).
Auch die Lohnfindung und Beitragsbemessung entsprechen der arbeitnehmerähnlichen Gestaltung des Arbeitsumfangs. Nach § 43 Abs. 2 S. 2 und 3 Strafvollzugsgesetz wird der Gefangene wie ein Arbeitnehmer mit 250 Arbeitstagen als Jahresarbeitsleistung entlohnt. Gemäß § 1 Abs. 2 der Gefangenenbeitragsverordnung werden die Beiträge nach der Formel BBGrdl xT/250 x B/250 berechnet. Setzt man einen Monat mit 20 Arbeitstagen an, ergibt sich folgende Berechnung: 29.106 EUR x 20/250 x 3/100 =69,85 EUR. Dass damit nur rund 250 Tage in die Berechnung nach der Gefangenenbeitragsverordnung einflielßen spricht nicht gegen, sondern für den Einbezug "umfasster" allgemein arbeitsfreie Tage als Zeiten eines Versicherungspflichtverhältnisses. Denn aus dem Teiler 250 sind die allgemeinen arbeitsfreien Tage bereits heraus gerechnet, weil er für die Arbeitstage im Kalenderjahr steht (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 Gefangenenbeitragsverordnung BRDrs. 3/77 vom 05.01.1977 Seite 3 [zu § 1); Verordnung des Bundesministeriums fur Arbeit und Soziales, BRDrs. 1051/97 vom 23.12.1997, Seite 3 [zu § 1]). Da je kleiner der Teiler ist, die geschuldeten Beiträge umso größer werden, bezahlen die Bundesländer die arbeitsfreien Wochenenden und Feiertage bereits mit. Werden für einen Gefangenen somit aber für ein Jahr Beiträge entrichtet, muss dem auch ein Jahr Versicherungspflichtverhältnis entsprechen.
Die Auffassung der Beklagten hatte dem gegenüber die Folge, dass ein Gefangener, der durchgängig ein Jahr mit 250 Arbeitstagen gearbeitet hat, noch 110 Arbeitstage für die Erfullung der Anwartschaftszeit nacharbeiten musste. Die 110 Arbeitstage-Differenz zu den 360 Kalendertagen der Anwartschaftszeit ergaben sich aus den nicht berücksichtigten Wochenenden und Feiertagen. 110 Arbeitstage entsprechen rund 5 Monaten, die zusätzlich zu arbeiten waren. Um eine Anwartschaftszeit von 12 Monaten zu erfüllen, musste ein Gefangener also rund 17 Monate durchgehend arbeiten und ware da mit wesentlich schlechter gestellt als Arbeitnehmer in einem freien Beschäftigungsverhaltnis. Außerdem mussten die Länder gut das 1,4-fache eines Jahresbetrages für einen Gefangenen zahlen, um 12 Monate Anwartschaftszeit zu finanzieren. Da es im Vollzug immer wieder Phasen ohne Arbeit gibt, ergäbe sich zudem die erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass zurückliegende Beitragszeiten durch die Rahmenfrist von 2 Jahren gekappt würden. Die Beiträge der Länder wurden damit im größeren Umfang verpuffen, ohne dass Gefangene hier durch Anspruche erwürben.
Damit sprechen Wortlaut der Vorschrift, Systematik des Gesetzes, der Wille des Gesetzgebers, die Vorschriften der Beitragsentrichtung sowie letztlich der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz gegen die aktuell praktizierte Berechnung der Anwartschaftszeit bei versicherungspflichtigen Gefangenen gemäß § 26 Abs. 1 Nr.4 SGB Ill durch die Beklagte. Es sind daher bei der Berechnung der Anwartschaftszeit des Klagers die "umfassten" allgemein arbeitsfreien Tage (arbeitsfreie Samstage, Sonntage und gesetzliche Wochenfeiertage, die innerhalb eines zusammenhängenden Arbeitsabschnitts liegen) als versicherungspflichtige Zeiten mit zu berücksichtigen, so dass der Kläger vorliegendl unzweifelhaft die erforderlichen 360 Tage in einem Versicherungspflichtverhältnis gemäß § 26 Abs. 1 Nr. 4 SGB Ill gestanden und damit die Anwartschaftszeit erfüllt hat.
Sozialgericht Duisburg, Urteil vom 29. Januar 20 7 4 -S 33 AL 363/ 7 3 (nicht rechtskräftig, Landessozialgericht Nordrhein Westfalen - L 20 AL 7 35/ 7 4)