Gericht beanstandet längere Anwartschaften

Über die Benachteiligung Gefangener beim Bezug von Arbeitslosengeld hatten wir berichtet. Das Sozialgericht Duisburg kommt in einem Urteil vom Januar 2014 zu dem Schluss, dass die Ungleichbehandlung nicht rechtskonform sei. Forum Strafvollzug berichtet darüber (Ausgabe 6/2014, S. 419 – 423). Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Anwartschaftszeit bei einem Versicherungspflichtver­hältnis als Gefangener (§§ 142, 26 SGB III)

Es ist kein sachlicher Grund erkennbar, die Anwartschaftszeit und damit den Ar­beitslosengeldanspruch von Gefange­nen, die in einem öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnis eigener Art gegen Arbeitsentgelt arbeiten und der Versicherungspflicht gemäß § 26 Abs. 1 Nr. 4 SGB Ill unterliegen, anders zu behandeln als bei Arbeitnehmern, die in einem reinen Beschäftigungsverhält­nis gegen Arbeitsentgelt arbeiten und gemäß §§ 24, 25 SGB Ill versicherungs­pflichtig  sind.

Sachverhalt:

Streitig ist, ob der Kläger durch seine versicherungspflichtige Arbeit, die er während einer Haftzeit ausgeübt hat, die erforderliche Anwartschaftszeit für den Anspruch auf Arbeitslosengeld erfüllt hat. ... Entgegen der bis zum August 2012 gängigen Praxis, wonach in der Arbeitsbescheinigung nach § 312 Abs. 4 SGB Ill gemäß den Ausfüll­hinweisen der Beklagten, arbeitsfreie Samstage, Sonntage und gesetzliche Wochenfeiertage, die innerhalb eines zusammenhängenden Arbeits- oder Ausbildungsabschnitts liegen, nicht aus der versicherungspflichtigen Zeit heraus zurechnen sind" (...), forderte die Beklagte in ihren neuen Ausfüllhinweisen zur Arbeitsbescheinigung die Justizvollzugsanstalten dazu auf, arbeitsfreie Tage ohne Anspruch auf Ar­beitsentgelt nicht zu bescheinigen (...).

Dementsprechend bescheinigte die JVA X für den Kläger mit den Arbeitsbeschei­nigungen vom  10.06.2013  (...) für den Zeitraum vom 09.05.2012 bis 19.04.2013 insgesamt 315 versicherungspflichtige Arbeitstage und für den Zeitraum vom 22.04.2013 bis 07.06.2013 insgesamt
27 versicherungsptlichtige Arbeitstage.

Am Tag seiner Haftentlassung (11.06.2013) meldete sich der Kläger bei der Beklagten arbeitslos und beantrag­te die Bewilligung von Arbeitslosengeld ab 12.06.2013.

Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 24.06.2013 ab. ... Den hiergegen fristgemäß eingelegten Wi­derspruch, mit dem der Kläger geltend machte, seines Erachtens seien die Ar­beitstage in der JVA falsch berechnet, wies die Beklagte mit Widerspruchsbe­scheid vom 08.07.2013 als unbegründet zurück. Die Anwartschaftszeit erfülle gemäß § 142 Abs. 1 SGB Ill nur, wer in der Rahmenfrist von 2 Jahren ab dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld (§ 143 Abs. 1 SGB Ill) mindestens 12 Monate, d.h. 360 Kalen­dertage (§ 339 Satz 2 SGB Ill) in einem Versicherungspflichtverhaltnis gestan­den hat. lnnerhalb der für den Kläger geltenden Rahmenfrist vom 12.06.2011 bis 11.06.2013 seien jedoch nur 342 Kalendertage berücksichtigungsfähig, in denen der Kläger versicherungs­pflichtig i.S.d. § 24, 26 und 28a SGB Ill gewesen sei. ...

Gründe:
... Die zulassige Klage ist begründet.

Der ablehnende Bescheid vom 24.06.2013 in Gestalt des Widerspruchs­bescheides vom 08.07.2013 ist rechts­widrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten gemäß § 54 Abs. 2 SGG. Er hat gemäß §§ 137, 138 ff. SGB Ill einen Anspruch auf Arbeitslosengeld in ge­setzlicher Höhe ab 12.06.2013 für die gesetzliche Dauer.

Gemäß §§ 137, 138 SGB Ill haben An­spruch auf Arbeitslosengeld Arbeitnehmer, die arbeitslos sind, sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemel­det haben und die Anwartschaftszeit erfüllt haben. Nach § 142 SGB Ill hat die Anwartschaftszeit erfüllt, wer in der Rahmenfrist mindestens 12 Monate in einem Versicherungspflichtverhaltnis gestanden hat. Nach § 143 Abs. 1 SGB Ill betragt die Rahmenfrist zwei Jahre und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung einer sonstigen Voraussetzung für den Anspruch auf Alg. Nach den genann­ten Vorschriften berechnet sich mithin aufgrund der Arbeitslosmeldung und Antragstellung zum 12.06.2013 die Rah­menfrist vom 12.06.2011 bis 11.06.2013.

Entgegen der Ansicht der Beklagten hat der Klager innerhalb dieser zweijähri­gen Rahmenfrist auch für mindestens 12 Monate (= 360 Tage, vgl. § 339 S. 2 SGB Ill) in einem Versicherungspflicht­verhältnis gestanden.

Zwar scheidet ein Versicherungspflicht­verhältnis als Beschäftigter nach §§ 24, 25 SGB Ill aus, weil der Kläger als Gefangener trotz Arbeitsleistung und Entlohnung zugewiesene Arbeit nicht in einem freien Beschäftigungsverhält­nis verrichtet hat, sondern vielmehr in einem öffentlich-rechtlichen Beschäfttigungsverhältnis eigener Art (vgL BSG Beschluss vom 05.12.2001 Az: B 7 AL 74/01 B). Allerdings erfüllt der Kläger den Sondertatbestand der Versicherungspflicht gemäß § 26 Abs. 1 Nr. 4 SGB Ill, wonach Gefangene, die Arbeits­entgelt erhalten, versicherungspflichtig sind.

Entgegen ihrer Rechtsauslegung bis Au­gust 2012 legt die Beklagte ab diesem Zeitpunkt den Wortlaut dieser Vorschrift dahingehend aus, dass nur noch die Tage anwartschaftsbegründend seien, für die tatsächlich Arbeitsentgelt ge­zahlt wurde und begründet dies mit einem Vergleich zum Wortlaut der §§ 24, 25 SGB Ill, wonach versicherungs­pflichtig die Personen sind, die gegen Arbeitsentgelt oder zu ihrer Berufsaus­bildung beschäftigt sind.
 
Allerdings rechtfertigt der Wortlaut der eben zitierten Vorschriften nicht die unterschiedliche Behandlung von Gefangenen, die ihre Arbeit gegen Ent­lohnung in einem öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnis eigener Art verrichten und Arbeitnehmern, die ihre Arbeitsleistung gegen Entlohnung in einem freien Beschäftigungsverhältnis verrichten.

Auch § 25 Abs. 1 SGB Ill stellt darauf ab, dass versicherungspflichtig die Per­sonen sind, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind. Der Wortlaut des  § 26 Abs. 1 Nr. 4, wonach Gefangene, die Arbeitsentgelt erhalten, versiche­rungspflichtig sind, unterscheidet sich mithin zum Wortlaut des § 25 SGB Ill lediglich darin, dass nicht auf ein (frei­es) Beschäftigungsverhältnis abgestellt wird. Hintergrund hierfür ist,wie bereits erwähnt, allein der Umstand, dass Ge­fangene keine Arbeitnehmer sind, weil sie zugewiesene Arbeit verrichten und in einem öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnis eigener Art stehen (vgl. Ute Winkler in ,,info also 2/2013 Seite 92").

Es ist auch kein sachlicher Grund er­kennbar, die Anwartschaftszeit und damit den Arbeitslosengeldanspruch von Gefangenen, die in einem öffent­lich-rechtlichen Beschäftigungsverhält­nis eigener Art gegen Arbeitsentgelt arbeiten und der Versicherungspflicht gemäß § 26 Abs. 1 Nr. 4 SGB Ill unter­liegen, anders zu behandeln, als Arbeit­nehmer, die in einem reinen Beschäftigungsverhältnis gegen Arbeitsentgelt arbeiten und gemäß § 24, 25 SGB Ill versicherungspflichtig sind. Sind bei Letzteren arbeitsfreie Samstage und Sonntage sowie gesetzliche Wochen­ Feiertage, die innerhalb eines zusam­ menhangenden Arbeits- oder Ausbil­dungsabschnitts liegen, nicht aus der versicherungspflichtigen Zeit herauszurechnen (sag. ,,umfasste" allgemei­ne arbeitsfreie Tage) ist kein sachlich rechtlicher Grund ersichtlich, die in Abkehr der bis zum August 2012 auch bei versicherungspflichtigen Gefangenen praktizierten Berechnung nunmehr auf die Tage mit Arbeitsentgelt ohne umfasste allgemeine arbeitsfreie Tage zu beschränken.

Vielmehr spricht die Gesetzhistorie dafür, dass der Gesetzgeber mit der Einfuhrung der Versicherungspflicht fur Gefangene gemäß §26 Abs. 1 Nr.4 SGB Ill die Arbeit der Gefangenen, der Ar­beit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gleichstellen wollte (vgl. BSG Urteil vom 22.03.1979 Az: B 7 RAr 98/78). So lautet etwa  §  3  Abs.  1  Strafvollzugsgesetz: ,,Das Leben im Vollzug soll den allge­meinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden". Nach § 37 Abs. 1 Strafvollzugsgesetz hat die Arbeit in der Haft das Ziel, Fähigkei­ten für eine Erwerbstätigkeit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten oder zu fordern. Die zugewiesene Ar­beit soll nach § 37 Abs. 4 und 5 Straf­ vollzugsgesetz wirtschaftlich ergiebig, also keine sinnlose,,Strafarbeit" sein.... Hat der Gesetzgeber also gerade die Angleichung der Verhaltnisse eines ar­beitenden Strafgegangenen mit denen eines in einem freien Beschäftigungs­verhältnis stehenden Arbeitnehmers beabsichtigt, ist vor dem Hintergrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 1 GG, also gerade kein sachlicher Grund fur die nunmehr mit der jetzigen Berechnungspraxis gege­benen Ungleichbehandlung zwischen arbeitenden Strafgefangenen und Ar­beitnehmern in einem freien Beschäftigungsverhältnis gegeben.

Das BSG hat die bisherige Berücksichti­gung von arbeitsfreien Wochenenden und Wochenfeiertragen als Versiche­rungspflichtzeiten bei Gefangenen in Anlehnung an die Situation von Ar­beitnehmern auch bereits ausdrücklich gebilligt und mit der Berechnung der Beitrage für die Versicherungszeit der Gefangenen in § 1 der Gefangenen­ Beitragsverordnung begründet, nach der jeder Arbeitstag mit einem 250-tel der Beitragsbemessungsgrundlage für ein Jahr angesetzt wird (vgl. BSG Urteil vom 07.11.1990 Az: B 9b 7RAr 112/89; s. auch LSG NRW Urteilvom 15.10.2008, Az: L 12 AL 40/07 und vom 18.03.2003, Az: L 1 AL 18/02).

Auch die Lohnfindung und Beitragsbe­messung  entsprechen  der  arbeitneh­merähnlichen Gestaltung des Arbeits­umfangs. Nach § 43 Abs. 2 S. 2 und 3 Strafvollzugsgesetz wird der Gefangene wie ein Arbeitnehmer mit 250 Arbeitsta­gen als Jahresarbeitsleistung entlohnt. Gemäß § 1 Abs. 2 der Gefangenenbei­tragsverordnung  werden  die Beiträge nach der Formel BBGrdl xT/250 x B/250 berechnet. Setzt man einen Monat mit 20 Arbeitstagen an, ergibt sich folgen­de Berechnung: 29.106 EUR x 20/250 x 3/100 =69,85 EUR. Dass damit nur rund 250 Tage  in die Berechnung  nach der Gefangenenbeitragsverordnung   ein­flielßen  spricht  nicht  gegen,  sondern für den Einbezug "umfasster" allgemein arbeitsfreie Tage  als Zeiten  eines Ver­sicherungspflichtverhältnisses.   Denn aus dem Teiler  250 sind die allgemei­nen  arbeitsfreien  Tage  bereits  heraus gerechnet, weil er für  die Arbeitstage im Kalenderjahr steht (§  1 Abs. 1 Nr. 2 Gefangenenbeitragsverordnung BRDrs. 3/77 vom  05.01.1977  Seite 3  [zu §  1); Verordnung  des  Bundesministeriums fur Arbeit und Soziales, BRDrs. 1051/97 vom 23.12.1997, Seite 3 [zu § 1]). Da je kleiner der Teiler  ist, die geschuldeten Beiträge umso größer werden, bezahlen die Bundesländer die arbeitsfreien Wo­chenenden und Feiertage bereits mit. Werden  für  einen  Gefangenen  somit aber  für  ein  Jahr  Beiträge  entrichtet, muss dem auch ein Jahr Versicherungs­pflichtverhältnis entsprechen.

Die Auffassung der Beklagten hatte dem gegenüber die Folge, dass ein Gefangener, der durchgängig ein Jahr mit 250 Arbeitstagen gearbeitet hat, noch 110 Arbeitstage für die Erfullung der Anwartschaftszeit nacharbeiten musste. Die 110 Arbeitstage-Differenz zu den 360 Kalendertagen der Anwart­schaftszeit ergaben sich aus den nicht berücksichtigten Wochenenden und Feiertagen. 110 Arbeitstage entspre­chen rund 5 Monaten, die zusätzlich zu arbeiten waren. Um eine Anwartschafts­zeit von 12 Monaten zu erfüllen, musste ein Gefangener also rund 17 Monate durchgehend arbeiten und ware da­ mit wesentlich schlechter gestellt als Arbeitnehmer in einem freien Beschäf­tigungsverhaltnis. Außerdem mussten die Länder gut das 1,4-fache eines Jah­resbetrages für einen Gefangenen zah­len, um 12 Monate  Anwartschaftszeit zu finanzieren. Da es im Vollzug immer wieder Phasen ohne Arbeit gibt, ergäbe sich zudem die erhöhte Wahrscheinlich­keit, dass zurückliegende Beitragszeiten durch die Rahmenfrist von 2 Jahren ge­kappt würden. Die Beiträge der Länder wurden damit im größeren Umfang verpuffen, ohne dass Gefangene hier­ durch Anspruche erwürben.

Damit sprechen Wortlaut der Vorschrift, Systematik des Gesetzes, der Wille des Gesetzgebers, die Vorschriften der Bei­tragsentrichtung sowie letztlich der Gleichbehandlungsgrundsatz  des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz gegen die aktuell praktizierte Berechnung der Anwart­schaftszeit bei versicherungspflichtigen Gefangenen gemäß § 26 Abs. 1 Nr.4 SGB Ill durch die Beklagte. Es sind daher bei der Berechnung der Anwartschaftszeit des Klagers die "umfassten" allgemein arbeitsfreien Tage (arbeitsfreie Sams­tage, Sonntage und gesetzliche Wo­chenfeiertage, die innerhalb eines zu­sammenhängenden Arbeitsabschnitts liegen) als versicherungspflichtige Zeiten mit zu berücksichtigen, so dass der Kläger vorliegendl unzweifelhaft die erforderlichen 360 Tage in einem Versicherungspflichtverhältnis gemäß § 26 Abs. 1 Nr. 4 SGB Ill gestanden und damit die Anwartschaftszeit erfüllt hat.

Sozialgericht Duisburg, Urteil vom 29. Januar 20 7 4 -S 33 AL 363/ 7 3 (nicht rechts­kräftig, Landessozialgericht Nordrhein­ Westfalen - L 20 AL 7 35/ 7 4)