Forderungen zur Bundestagswahl 2021

Der Evangelische Bundesfachverband Existenzsicherung und Teilhabe e.V. (EBET) der Diakonie Deutschland hat ein Positionspapier "Straffälligenhilfe" mit Forderungen zur Bundestagswahl 2021 veröffentlicht. Darin werden neun Forderungen, unter anderem zu Überprüfung der Ersatzfreiheitsstrafe, Einbeziehung in die Rentenversicherung und ein bundeseinheitliches Resozialisierungsgesetz thematisiert.

Positionspapier Straffälligenhilfe - Forderungen zur Bundestagswahl 2021

Wofür wir stehen

Die Diakonie und der Evangelische Bundesfachverband Existenzsicherung und Teilhabe e.V. – Wohnungsnotfall- und Straffälligenhilfe (EBET) setzen sich für eine Verbesserung der Lebenslagen straffällig gewordener Menschen und ihrer Angehörigen ein. Es ist ihre Aufgabe, Betroffene zu unterstützen, um eine Resozialisierung zu fördern. Die Freie Straffälligenhilfe vertritt die Interessen und Rechte von Menschen, die sonst keine hörbare Stimme in unserer Gesellschaft haben. Sie hilft Menschen in Haft und ihren Angehörigen wahr- und angenommen zu werden. Die Einrichtungen der Freien Straffälligenhilfe leisten einen wichtigen Beitrag zur Haftvermeidung, sie betreuen während der Haft und sie begleiten während und nach der Haftentlassung. Bei allen Angeboten stehen immer der Mensch und das Menschsein im Mittelpunkt. Die Freie Straffälligenhilfe nimmt mit ihrem ganzheitlichen Ansatz die sozialen Problemlagen straffällig gewordener Menschen in den Blick und bietet konkrete Unterstützungsangebote an (z. B. bei der Wohnungs- und Arbeitssuche), um Teilhabe in der Gesellschaft zu ermöglichen. Die Zusammenarbeit mit Einrichtungen der Freien Straffälligenhilfe ist immer freiwillig und kostenfrei. Alle Gespräche finden vertraulich statt, Beratung und Begleitung sind dauerhaft möglich. Bei Bedarf vermitteln Einrichtungen der Freien Straffälligenhilfe an Fachdienste weiter (z. B. Suchtkrankenhilfe, Schuldnerberatung). Die Freie Straffälligenhilfe ist stets bestrebt, durch geeignete Maßnahmen (z. B. gemeinnützige Arbeit, Geldverwaltung, Täter-Opfer-Ausgleich) Inhaftierungen zu vermeiden. Mit ihren ambulanten und stationären Angeboten ist sie eine wichtige Partnerin von Politik, Verwaltung und Justiz.

Wo wir stehen

Die Zuständigkeit für den Strafvollzug ist im Zuge der Föderalismusreform im Jahr 2006 vom Bund auf die Länder übergegangen, obwohl sich die Zuständigkeit des Bundes bis dahin bewährt hatte. In der Folge haben die Länder eigene Strafvollzugs- bzw. Justizvollzugsgesetze erlassen. Dabei wären gerade im Strafvollzug einheitliche Bundesgesetze nötig, um die Rechtseinheit in Deutschland zu wahren. Die öffentliche Debatte über den Reformbedarf im Strafvollzug ist jedoch kaum mehr vorhanden. Der marginalisierte Stellenwert zeigt sich auch bei den Rahmenbedingungen für die Freie Straffälligenhilfe: Sie ist regional sehr unterschiedlich ausgestaltet, es gibt keine einheitlichen Finanzierungsquellen, und sie ist rechtlich kaum verankert. Zudem ist derzeit an einigen Stellen ein Trend zu beobachten, bewährte Maßnahmen und erfolgreiche Projekte der Freien Straffälligenhilfe, die zudem großes Vertrauen bei den Menschen in Haft genießen, durch die Justizvollzugsanstalten selbst durchführen zu lassen. Der notwendige Aufbau und die Verstetigung erfolgreicher Strukturen der Freien Straffälligenhilfe werden so verhindert.
Für die Menschen in Haft haben in der letzten Zeit sowohl die Gefahr einer Ansteckung mit Covid-19 als auch die Umsetzung der Corona-Maßnahmen eine große Belastung dargestellt. So haben unter anderem die Isolation bei der Aufnahme und die Kontakteinschränkungen bei Besuchen viele Strafgefangene in eine Krise gestürzt.

Was wir fordern


1. Bundeseinheitliches Resozialisierungsgesetz erlassen
Gesellschaftliche Teilhabe ist ein unverbrüchliches Menschenrecht. Reso-zialisierungsarbeit ist die Förderung eines Lebens mit gesellschaftlicher Teilhabe in Straffreiheit.
Ein bundesweites Resozialisierungsgesetz – als ein Sozialgesetz – soll den Anspruch darauf festigen. Das kommt Menschen mit Hafterfahrung zugute, denn es verleiht ihnen das Recht auf Resozialisierung. Es sichert durchgehende Standards und qualifizierte Fachlichkeit, denn es beschreibt den Prozess und die jeweils zuständigen Stellen mit ihren Aufgaben. Es gibt allen Beteiligten Verfahrenssicherheit, hilft Rückfallquoten zu senken, spart Haftplätze und Kosten. Zudem sorgt es endlich dafür, dass die Resozialisierungsarbeit der Freien Straffälligenhilfe die Anerkennung und Unterstützung erfährt, die ihr für diese wertvolle Arbeit zusteht. Straftaten werden nicht durch Abschreckung verhindert, sondern vor allem durch soziale Integration von Menschen, bevor sie straffällig werden.

2. Ersatzfreiheitsstrafe auf den Prüfstand stellen
Die Geldstrafe ist neben der Freiheitsstrafe eine der beiden Hauptstrafen im Strafrecht. Wer eine Geldstrafe nicht begleicht oder nicht begleichen kann, erhält eine Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 StGB). Fast 10 Prozent aller Gefangenen verbüßen Ersatzfreiheitsstrafen. Während Menschen ohne finanzielle Mittel die Freiheit entzogen wird, besteht für Menschen, die genügend Geld haben, diese Gefahr nicht. Es gilt das Motto „Wer arm ist, sitzt – wer reich ist, zahlt“. Die Ersatzfreiheitsstrafe trifft daher fast ausschließlich marginalisierte Gruppen. So werden SGB II-Leistungsberechtigte je nach Bundesland in der Regel zu Tagessätzen von 10 bis 15 Euro verurteilt. Dies entspricht dem gesamten Budget aus dem Regelsatz. Für grundlegende Bedürfnisse der Existenzsicherung bleibt somit kein Geld übrig. Mit einer Ersatzfreiheitsstrafe werden damit vor allem Menschen in Armut bestraft. Diese sozial ungerechte Praxis ist zu stoppen und die Ersatzfreiheitsstrafe insgesamt auf den Prüfstand zu stellen.

3. Alternativen zur Haft fördern
Fachleute hinterfragen zunehmend die Sinnhaftigkeit von Haftstrafen für eine Vielzahl von Delikten, und sie fordern den Ausbau von Alternativen zur Haft. Nicht erst seit der Föderalismusreform erfüllt das Gefängnis seine ihm zugedachten Aufgaben nicht. Freiheit in Unfreiheit erlernen, das ist ein Widerspruch. Der Wahrung der Sicherheit wird höchste Priorität eingeräumt und steht der Resozialisierung nur allzu häufig im Weg.
Für alle Delikte im Zusammenhang mit Erkrankungen und Armut müssen alternative gesellschaftliche Sanktionen entwickelt werden. Täter-Opfer-Ausgleich, angepasste psychosoziale Hilfen statt starrer Bestrafung sowie der Ausbau der Ausstiegshilfen für Suchtkranke sind nur einige der denkbaren Alternativen, die die Teilhabe an der Gesellschaft in zufriedener Straffreiheit stärken. Alternativen zur Haft fördern, das bedeutet: Bedienstete in den Justizvollzugsanstalten werden entlastet, Haftkosten werden gesenkt und Rückfallquoten werden gemindert – alle profitieren.

4. Übergangsmanagement verbessern
Das Übergangsmanagement zur (Wieder-)Eingliederung von straffällig gewordenen Menschen beginnt schon bei der Inhaftierung und dauert auch nach der Haftentlassung an. Deutlich wird dies u.a. beim Erhalt von Wohnung und Arbeitsplatz während der Haftzeit und beim Kontakt zu Familie und Nahestehenden. Wohnraum, Arbeit und ein stabiles soziales Umfeld sind Grundbedingungen für eine gelungene Resozialisierung. Zudem ist ein ununterbrochener Krankenversicherungsschutz nach Haftentlassung wichtig. In der Praxis zeigen sich immer wieder Schwierigkeiten bei der Rückkehr ins Regelsystem der Krankenversicherung. Auch Beitragsschulden entstehen, weil sich die Betroffenen nicht rechtzeitig mit Haftantritt von der Krankenkasse abgemeldet haben.
Durch das Übergangsmanagement ist sicherzustellen, dass straffällig gewordene Menschen rechtzeitig bei einer erfolgreichen Resozialisierung unterstützt werden. Entsprechende Betreuungsmaßnahmen sind zu verbessern und auszuweiten. Der Zugang in das Krankenkassensystem ist für Haftentlassene klar und niedrigschwellig zu regeln. Zudem sind die Regelungen bei der obligatorischen Anschlussversicherung dahingehend zu ändern, dass keine Beitragsschulden entstehen.


5. Wohnungsverlust in Folge von Inhaftierung vermeiden
Verliert jemand infolge einer Inhaftierung seine Wohnung, ist es anschließend äußert schwierig, wieder eine neue Wohnung zu bekommen. Gesicherter Wohnraum ist jedoch zentral für die Resozialisierung.
Umso wichtiger ist es, eine Wohnung insbesondere während einer kurzen Inhaftierung zu erhalten und den Zugang zu Wohnraum nach einer längeren Haft zu erleichtern. Aus diesem Grund muss die Übernahme der Wohnungskosten sofort bei Haftantritt geregelt werden. Eine Übernahme der Mietkosten ist grundsätzlich bis zu einem Jahr zu genehmigen. Auch eine Bewilligung darüber hinaus muss möglich sein, wenn Umstände vorliegen, die sie notwendig machen. Zudem ist sicherzustellen, dass Angehörige durch die Inhaftierung eines Familienmitglieds nicht in Wohnungsnot geraten.

6. Arbeitsförderung verbessern
Haftentlassene Menschen benötigen aufgrund ihrer Vorgeschichte und den häufig vorhandenen multiplen Problemlagen besondere Arbeitsförde-rung, um wieder am Arbeitsleben teilzunehmen. Im Jahr 2018 bestritten lediglich 14 Prozent der Haftentlassenen ihren Lebensunterhalt im Wesentlichen durch eigene Erwerbsarbeit, während mehr als die Hälfte (53,3 Prozent) auf SGB II-Leistungen angewiesen war. Dabei ist Armut auch bei Straffälligen vor allem durch auskömmliche Erwerbsarbeit zu vermeiden. Die Resozialisierungsberatung der Bundesagentur für Arbeit mit dem Fokus auf Arbeitsvermittlung bereits in der Haft ist zu intensivieren und die Vernetzung der vor Ort tätigen Vollzugsbehörden mit sozialen sowie kommunalen Trägern und der Straffälligenhilfe ist auszubauen. Haftentlassene erhalten einen Anspruch auf Förderung nach dem Teilhabechancengesetz (§ 16i SGB II).

7. Straffällige in die Rentenversicherung einbeziehen
Strafgefangene, die während der Haft gegen Arbeitsentgelt tätig sind, sind weiterhin nicht gesetzlich rentenversichert. Es werden weder Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt noch gilt die Zeit der Inhaftierung als Berücksichtigungs-, Anrechnungs- oder Zurechnungszeit (§§ 57 bis 59 SGB VI). Die Folgen sind eine geringere Rentenhöhe und das Scheitern von Rentenansprüchen durch die Nichterfüllung von Wartezeiten (§ 50 Abs. 2 bis 5 SGB VI). Schließlich können auch bereits erworbene Anwartschaften auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wegen der Nichterfüllung der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen verloren ge-hen (§ 43 Abs. 1 Nr. 2, § 44 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI). Die Zuständigkeit für die Einführung der Rentenversicherungspflicht liegt beim Bund. Er muss endlich eine entsprechende Gesetzesänderung auf den Weg bringen und eine Klärung der offenen Finanzierungsfrage herbeiführen, damit zukünftig Arbeit während der Haft in der Rentenversicherung berücksichtig wird.


8. Zugang zu medizinischer, fachärztlicher und psychotherapeutischer Versorgung verbessern
Menschen in Haft haben nach dem „Äquivalenzgrundsatz“ in den Strafvollzugsgesetzen der Länder einen Anspruch auf medizinische Leistungen, die dem allgemeinen Standard der gesetzlichen Krankenkassen entsprechen. In der Praxis wird dieser „Äquivalenzgrundsatz“ jedoch häufig nicht eingehalten. Die Gesundheitsausgaben im Justizvollzug sind durchschnittlich deutlich geringer als die Gesundheitsausgaben der gesetzlichen Krankenkassen, obwohl der Gesundheitszustand von Menschen in Haft im Vergleich zur Gesamtbevölkerung häufiger schlechter ist. Viele leiden an Infektions-, Sucht- und psychischen Erkrankungen. Behandlungen werden durch knappe personelle Ressourcen, die eingeschränkte Verfügbarkeit von Fachärzt*innen, die Einbindung von medizinisch-psychologischem Personal in die hierarchischen Strukturen der Justizvollzugsanstalten sowie knappe Budgets erschwert.
Der Zugang zu medizinischer, fachärztlicher und psychotherapeutischer Versorgung ist zu verbessern. Hierzu sind auch Möglichkeiten zur Kooperation mit fachärztlichen und psychologischen/therapeutischen Diensten außerhalb der Justizvollzugsanstalten zu schaffen. Menschen in Haft dür-fen nicht Patient*innen zweiter Klasse sein.

9. Digitalisierung in der Straffälligenhilfe voranbringen
Die Digitalisierung treibt Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft voran. Auch in der Verwaltung findet eine digitale Transformation statt. Durch das Onlinezugangsgesetz (OZG) wird diese Entwicklung noch verstärkt, da es Bund, Länder und Kommunen verpflichtet, bis Ende 2022 ihre Verwaltungsleistungen über Verwaltungsportale auch digital anzubieten. Bereits heute können in einigen Ämtern und Behörden Termine ausschließlich online gemacht werden. Für die Arbeit in der Straffälligenhilfe bedeutet dies, dass Menschen in Haft im Rahmen der Resozialisierung die Möglichkeit erhalten müssen, sich adäquat auf diese Veränderungen vorzubereiten.
Es müssen geeignete Konzepte entwickelt und umgesetzt werden, um Strafgefangene auf digitale Anforderungen in Bildung, Beruf und Gesellschaft vorzubereiten. In den Justizvollzugsanstalten sind die Möglichkeiten zur kontrollierten Internet- und E-Mailnutzung auszubauen und die Telefonzeiten auszuweiten, um auch wichtige Angelegenheiten des Übergangsmanagements (Ämterangelegenheiten, Wohnungssuche, Arbeitssuche etc.) selbstverantwortet organisieren und den Kontakt zum sozialen Umfeld aufrechterhalten zu können.

Ansprechpartner:
Lars Schäfer
Wohnungsnotfall- und Straffälligenhilfe | Zentrum Migration und Soziales
T +49 30 65211 1816 | F +49 30 65211 3644
lars.schaefer@diakonie.de

Diakonie Deutschland
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Das Positionspapier können Sie hier als PDF-Datei einsehen.