Empfehlungen für eine frauenspezifische Straffälligenhilfe

In der aktuellen Ausgabe unseres Informationsdienstes Straffälligenhilfe stehen straffällig gewordene Frauen im Mittelpunkt. Die BAG-S unterhält einen Fachausschuss, der sich bereits seit Jahren mit der Situation inhaftierter Frauen auseinandersetzt. Dieses Gremium hat ein Werkstattpapier mit Empfehlungen für die frauenspezifische Straffälligenhilfe erarbeitet und im Infodienst veröffentlicht. Um eine breite Diskussion zu ermöglichen stellen wir es an dieser Stelle zur Verfügung. Ziel der Empfehlungen ist es, den Diskurs über die spezifischen Belange und Bedürfnisse von straffällig gewordenen Frauen in der Beratungspraxis stärker zu verankern und das fachspezifische Wissen zu vertiefen. Die Mitglieder des Fachausschusses freuen sich über Ihre Rückmeldungen.

 

Werkstattpapier zur frauenspezifischen Straffälligenhilfe (PDF-Version)

Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich, in dem die Geschlechterdifferenz so ausgeprägt ist wie in der Kriminalität. Die geringe Zahl straffällig gewordener Frauen weist nicht nur eine andere Deliktstruktur auf, sondern auch eine völlig andere Lebenssituation. Von ihren Familien häufig verlassen, durch die Trennung von ihren Kindern belastet, müssen sie nach ihrer Haftentlassung zumeist völlig auf sich alleine gestellt eine neue Existenz und Lebensperspektive aufbauen.
Straffällig gewordene Frauen brauchen deshalb eigenständige, frauenspezifische Hilfeangebote, die auf ihre spezifischen Erfordernisse zugeschnitten sind und psychosoziale Hilfen mit existenzsichernden Maßnahmen verknüpfen. Der Frage, welche Hilfen sie brauchen und wie diese ausgestaltet sein sollten, widmet sich dieser Text.

1. Hintergründe frauenspezifischer Straffälligenhilfe
Straffällig gewordene Frauen sind eine kleine Minderheit (durchschnittlich gibt es ca. 4000 inhaftierte Frauen in Deutschland), die in Theorie und Praxis des Justizsystems und der Straffälligenhilfe sowie der öffentlichen Diskussion über Kriminalität und Strafe häufig vernachlässigt und vergessen wird. Liegt ihr Anteil in der polizeilichen Kriminalstatistik der Tatverdächtigen noch bei 25 Prozent, so beträgt ihr Anteil im Strafvollzug nur noch fünf Prozent. Das heißt, Frauen begehen überwiegend Delikte, die nicht mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden. Daran wird deutlich, dass Frauen eine völlig andere Deliktstruktur aufweisen.
Ihre Delikte gehören vorwiegend zum Bereich der Eigentumskriminalität und dies in der minderschweren Form, häufig handelt es sich um Ladendiebstahl und Betrugsstraftaten (überwiegend Bestellbetrug oder Betrug mit Scheckkarten). Zudem weisen sie einen höheren Anteil bei Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz auf, wobei sie zumeist selbst abhängig sind. Bei der Gewaltkriminalität und Straftaten gegen das Leben sind sie kaum vertreten; ebenso wenig bei der Wirtschafts- und Umweltkriminalität sowie bei Verkehrsdelikten. Dies hat zur Folge, dass Frauen auch zu kürzeren Strafen verurteilt werden: mehr als 50 Prozent verbleiben kürzer als ein Jahr im Strafvollzug. 
Die Kriminalität von Frauen ist einerseits weit weniger auffällig und hat andererseits weit weniger soziale Schäden und Opfer zur Folge. Das geringe gesellschaftliche und politische Interesse an straffällig gewordenen Frauen hat vermutlich auch damit zu tun, dass weibliche Kriminalität meist unspektakulär ist. Hinzu kommt, dass sie keine spektakulären Flucht- und Ausbruchsversuche unternehmen, die zu Schlagzeilen führen.
Wenn Frauen straffällig werden, wird dies von ihrem Umfeld als Abweichung von gesellschaftlichen Rollenerwartungen an Frauen bewertet. Sie haben nicht nur eine Straftat begangen, sondern auch als Frau versagt. Die Kriminalität von Männern ist dagegen durchaus mit Männlichkeitsbildern vereinbar. Dies führt einerseits dazu, dass Frauen mit großen Schuld-, Scham- und Versagensgefühlen auf ihre Straffälligkeit reagieren und andererseits stärker moralisch verurteilt und stigmatisiert werden, was sich in unheilvoller Weise gegenseitig verstärkt.
Auf ihre Inhaftierung reagieren straffällig gewordene Frauen in der Regel mit Anpassung, Passivität und Ohnmachtsgefühlen. Ihre Aggressionen richten sie gegen sich selbst. Psychosomatische Erkrankungen und Depressionen bis hin zur Selbstverletzung sind die Folge. Wie bei ihrer Kriminalität gibt es auch in den Frauengefängnissen signifikant weniger Gewalttätigkeit.
Die Kriminalität von Frauen findet oft im Zusammenhang mit prekären Beziehungen zu Männern und in Abhängigkeit von Männern statt. Dies kann so weit gehen, dass sie – gezwungen oder auch aus eigenem Antrieb – ihre Männer vor Gericht schützen und für Taten verurteilt werden, an denen sie in dem im Urteil dargestellten Ausmaß gar nicht beteiligt waren. Werden Frauen gewalttätig, ist dies zumeist ein Versuch, sich aus solchen Abhängigkeitsbeziehungen oder aus Beziehungen, in denen sie misshandelt werden, zu befreien.
Bei Polizei, Justiz und im Justizvollzug sind Frauen Strukturen unterworfen, die für Männer entwickelt wurden und an diesen ausgerichtet sind. Es findet eine Gleichbehandlung statt, die geschlechtsspezifische Aspekte außer Acht lassen und die Situation und Lebensrealität straffällig gewordener Frauen nicht berücksichtigt. Dies führt zu einer gravierenden strukturellen Benachteiligung der Frauen. Gerade in einem Bereich, in dem der Unterschied zwischen den Geschlechtern so augenfällig ist, findet die vielerorts geforderte Geschlechterdifferenzierung nicht statt. So haben die Frauenjustizvollzugsanstalten z.B. die gleichen Sicherheitsstandards wie die Haftanstalten für Männer, obwohl Frauen eine weit geringere Gefährlichkeit aufweisen und keine Ausbruchsversuche unternehmen. Obwohl sie aufgrund ihrer Delikte eine höhere Eignung für den offenen Vollzug haben, werden sie nicht vermehrt dort untergebracht.
Zu den strukturellen Benachteiligungen gehört auch, dass straffällig gewordene Frauen aufgrund ihrer geringen Zahl entweder in einer der sieben selbständigen Frauenhaftanstalten inhaftiert sind (dies betrifft ca. die Hälfte der inhaftierten Frauen) und damit häufig weit von ihrem Wohnort entfernt. Oder sie sind in oft kleinen Abteilungen in Männerhaftanstalten untergebracht, in denen es kaum Freizeit- oder Betreuungs- und keine Ausbildungsangebote für sie gibt.

2. Lebenssituation straffällig gewordener Frauen
Die Biographie und Lebenssituation straffällig gewordener Frauen – jedenfalls soweit sie zu Klientinnen der Straffälligenhilfe werden – ist von sozialer Benachteiligung, Armut und Ausgrenzung geprägt. Häufig ohne Schulabschluss und Ausbildung sind ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt denkbar schlecht und sie müssen von Sozialleistungen leben. Zumeist steht ihnen nur der Niedriglohnsektor zur Verfügung, so dass sie, selbst wenn sie einen Arbeitsplatz haben, aus ihrem Einkommen nicht ihren Lebensunterhalt (und den ihrer Kinder) bestreiten können und auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen sind. Berufliche Identität und Selbstbewusstsein lässt sich so nicht entwickeln. Die Armut führt zudem häufig zur Verschuldung. Nach einer Inhaftierung sind sie dies in der Regel immer.
In ihrer Kindheit und Jugend waren straffällig gewordene Frauen häufig Opfer von Gewalt, Misshandlung und sexuellem Missbrauch. Aus stabilen Familienverhältnissen kommen sie selten und haben verlässliche Familienbindungen zumeist nicht kennen gelernt. Als Erwachsene bleiben sie häufig im vertrauten Beziehungsmuster und binden sich wieder an Männer, die sie misshandeln und demütigen. Sie unterwerfen sich und machen sich von ihnen abhängig. So verharren sie im Kreislauf aus männlicher Gewalt und weiblicher Opferhaltung. Diesen Kreislauf zu durchbrechen und die Frauen zu unterstützen, zu einem eigenständigen und unabhängigen Leben zu finden, ist deshalb Aufgabe und Ziel frauenspezifischer Straffälligenhilfe. Dies liegt auch im Interesse ihrer Kinder, an die sonst die Strukturen von psychischer und physischer Gewalttätigkeit und Unterwerfung weitergegeben werden.
Viele straffällig gewordene Frauen haben Kinder, für die sie nicht selten die alleinige Verantwortung tragen. Diese Kinder sind von den Lebensumständen der Mutter unmittelbar betroffen. Bei einer Inhaftierung der Mutter werden sie aus ihren Lebenszusammenhängen herausgerissen und zumeist in Pflegefamilien oder Heimen untergebracht. Insbesondere wenn die Trennung mit einem völligen Kontaktabbruch zur Mutter verbunden ist, sind die Folgen für die Kinder meist traumatisch. Häufig gibt es keine Väter oder andere Angehörige, die die Kinder während der Inhaftierung betreuen. Auch dies ist ein gravierender Unterschied zu straffällig gewordenen Männern, deren Kinder in der Regel von den Müttern versorgt werden.
Hinzu kommt, dass straffällig gewordene Frauen, weit häufiger als dies bei Männern der Fall ist, von ihren – oft ohnehin nur rudimentär vorhandenen – Familien, Ehemännern und Partnern verlassen werden. Nur selten haben sie tragfähige soziale Beziehungen, die die Haftzeit überdauern. Ihr Fortbestand wird durch die häufig wohnortferne Inhaftierung zusätzlich erschwert. Dies hat zur Folge, dass sie nach einer Haftentlassung nicht in eine bestehende Familie zurückkehren können, sondern zumeist völlig auf sich alleine gestellt eine neue Existenz und Lebensperspektive aufbauen müssen und in sozialer Isolation und Einsamkeit leben. Zudem zieht dies häufig den Verlust ihrer gesamten Habe nach sich. Die Ablehnung durch das soziale Umfeld und die Trennung von den Kindern verstärkt ihre Schuld- und Schamgefühle und belastet ihr ohnehin geringes Selbstwertgefühl.
Signifikant an der Lebenssituation straffällig gewordener Frauen ist auch ihre schlechte gesundheitliche Situation. Diese ist einerseits eine Folge von Misshandlung und Missbrauch und andererseits von einer mangelnden Selbstfürsorge, die durch Minderwertigkeitsgefühle und geringe Selbstachtung verursacht ist. Hinzu kommt, weit häufiger als dies bei Männern der Fall ist, die Abhängigkeit von Medikamenten, Drogen und/oder Alkohol, die ihre Gesundheit zusätzlich beeinträchtigen und häufig zu Infektionskrankheiten (Hepatitis und HIV/Aids) führen. Zudem leiden viele an psychosomatischen Beschwerden bis hin zu psychiatrischen Erkrankungen sowie an posttraumatischen Belastungsstörungen. Zu diesem Befund kommt auch die WHO – Regionalbüro für Europa – 2007.

3. Prinzipien frauenspezifischer Straffälligenhilfe

a) Eigenständige, frauenspezifische Einrichtungen
Straffällig gewordene Frauen brauchen eigenständige, frauenspezifische Einrichtungen, in denen ihre Bedürfnisse im Vordergrund stehen und nicht denen von Männern untergeordnet sind. Nach Möglichkeit sollten sie räumlich und organisatorisch von den Einrichtungen für Männer getrennt sein. Wo dies nicht möglich ist, müssen in jedem Fall für Frauen zeitlich getrennte Sprechstunden angeboten werden. Die Angebote müssen auf ihre spezifische Lebensrealität und Problemlagen zugeschnitten sein und in geschützter Atmosphäre eine parteiliche und bedürfnisorientierte Unterstützung anbieten, die sich an den individuellen Erfordernissen des jeweiligen Einzelfalls ausrichtet. Gerade die geringe Zahl straffällig gewordener Frauen, die immer wieder zur Begründung ihrer Vernachlässigung und Benachteiligung herangezogen wird, bietet dabei große Chancen, die Angebote bedarfsgerecht zu gestalten.

b) Wissensbasierte Straffälligenhilfe für Frauen
Frauenspezifische Straffälligenhilfe setzt bei den weiblichen Fachkräften die Kenntnis gesellschaftlich bedingter Geschlechterrollen und -hierarchien sowie der Geschlechterdifferenzen und deren Reflexion voraus. Zudem benötigen die Beraterinnen ein breites Wissen über Traumatisierungen, die bei straffällig gewordenen Frauen in der Regel durch Männer erfolgt sind und deren psychosoziale Folgen. Da die Traumata zumeist nie behandelt und bearbeitet wurden, wirken diese Folgen lebenslang fort. Häufig finden zudem Retraumatisierungen statt, die in der Straffälligenhilfe unter allen Umständen vermieden werden müssen. Hinzu kommen Kenntnisse über die Hintergründe und Struktur der Kriminalität von Frauen sowie die Sozialisationsbedingungen unterprivilegierter Frauen. Auf diesem allgemeinen sozialen und gesellschaftlichen Hintergrund wird die jeweils individuelle Biographie und Lebenssituation der Klientinnen erfasst und mit ihr gemeinsam mögliche Lösungswege und Entwicklungsmöglichkeiten erarbeitet, die auf ihren Ressourcen und Bewältigungsstrategien basieren. Um eine vertrauensvolle Zusammenarbeit nicht von vorneherein zu erschweren, ist frauenspezifische Straffälligenhilfe von weiblichen Fachkräften zu leisten.

c) Ganzheitliche Problemsicht und -bearbeitung
Ein wichtiges Prinzip der frauenspezifischen Straffälligenhilfe ist die ganzheitliche Problemsicht. D.h. die Klientinnen werden immer im Zusammenhang mit ihrer Lebensgeschichte und Lebenssituation, ihrem sozialen Umfeld, ihren Bedingungen und Möglichkeiten gesehen und weder auf einzelne Aspekte ihrer Persönlichkeit noch auf von außen festgelegte Rollen oder Zuschreibungen reduziert. Dies beinhaltet ebenso, dass der Fokus nicht auf ihrer Straffälligkeit liegt, sondern auf der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und Lebensperspektiven. Frauenspezifische Straffälligenhilfe hat deshalb immer die Existenzsicherung ihrer Klientinnen im Blick und leistet bei Bedarf entsprechende Unterstützung. Dies bezieht sich vor allem auf die Bereiche Wohnen, Lebensunterhalt, Arbeit, Ausbildung, Schuldenregulierung und gültige Ausweispapiere. Insbesondere nach der Haftentlassung ist die Herstellung einer abgesicherten Existenz vordringliches Ziel, sollte aber bei jeder Hilfestellung überprüft und ggf. hergestellt werden.
Auf Wunsch und nach Bedarf werden das soziale Umfeld, Partner, Angehörige und insbesondere die Kinder in die Hilfestellung einbezogen. Dies kann entweder zur Klärung, Unterstützung und Aufrechterhaltung der Beziehung erforderlich sein oder weil die Angehörigen in sozialen Schwierigkeiten ebenfalls Unterstützung benötigen. Insbesondere bei plötzlichen Festnahmen mit einem Untersuchungshaftbefehl ist davon auszugehen, dass die „zurückbleibende“ Familie, sofern es sie gibt, mit der Situation überfordert ist und unterstützt werden muss.

d) Einbezug der Kinder in die Hilfestellung
Unabhängig davon, ob die Kinder mit ihren Müttern leben oder anderweitig untergebracht sind, müssen der Kontakt zu den Kindern sowie die Perspektiven der Kinder in die Hilfestellung einbezogen werden. Sind die Kinder von ihren Müttern getrennt, – dies kann auch unabhängig von einer Inhaftierung der Fall sein – muss die Mutter, soweit dies von beiden Seiten gewünscht ist, bei der Aufrechterhaltung des Kontaktes zu den Kindern und der Wahrnehmung ihres Umgangsrechtes unterstützt werden. Hierzu ist oft die Zusammenarbeit mit den die Kinder betreuenden Einrichtungen und/oder Personen sowie den zuständigen Jugendämtern erforderlich. Im Beratungsgespräch sind die Trauer über den Verlust der Kinder, Schuldgefühle, keine gute Mutter zu sein, oder die Überforderung in der Betreuung und Erziehung der Kinder wichtige Themen.
Neben diesen Grundsätzen, die vor allem der spezifischen Situation straffällig gewordener Frauen geschuldet sind, arbeitet frauenspezifische Straffälligenhilfe als Teil der Freien Straffälligenhilfe nach folgenden Prinzipien.

e) Freiwilligkeit und Wahlfreiheit
Die Betroffenen entscheiden selbst, ob, welches und wie lange sie ein Hilfeangebot in Anspruch nehmen. Dementsprechend kommt der Handlungsauftrag für die Beratung und Begleitung von der Klientin und nicht von der Justiz. Für Frauen bedeutet dies, dass sie die Möglichkeit haben müssen, von einer weiblichen Fachkraft beraten und begleitet zu
werden.
Die Angebote der frauenspezifischen Straffälligenhilfe sollten zudem allen von strafrechtlichen Maßnahmen betroffenen oder bedrohten Frauen ohne Ausschlusskriterien zur Verfügung stehen; also beispielsweise auch alkohol- oder drogenabhängigen Frauen. Gegebenenfalls müssen andere Hilfeangebote, z.B. Suchtberatungsstellen einbezogen werden oder an diese weitervermittelt werden.

f) Kontinuität
Zielgruppe frauenspezifischer Straffälligenhilfe sind von strafrechtlichen Maßnahmen bedrohte, inhaftierte und aus der Haft
entlassene Frauen. Unabhängig von aktuellen Verfahrensabschnitten sollten die Hilfen, die so früh wie möglich einsetzen und so lange wie nötig angeboten werden, durch dieselbe Person geleistet werden. Da die Biographie straffällig gewordener Frauen häufig von Beziehungsabbrüchen und Verlusterfahrungen geprägt ist, müssen diese in der Straffälligenhilfe möglichst vermieden werden.


g) Verschwiegenheit
Grundlage der persönlichen Beziehung zwischen Fachkraft und Klientin muss gegenseitiges Vertrauen sein. Informationen, die die Klientin innerhalb der Beratung und Begleitung mitteilt, dürfen deshalb nicht ohne die Zustimmung der Klientin an Dritte weitergegeben werden.

4. Erforderliche Hilfeangebote, die zur Verfügung stehen sollten
Straffällig gewordenen Frauen muss das gesamte Angebotsspektrum der freien Straffälligenhilfe nach frauenspezifischen Prinzipien zur Verfügung stehen. Im Einzelnen benötigen sie folgende Hilfen:

a) Hilfen zur Haftvermeidung
Dies umfasst, soweit dies möglich ist, Interventionen im vorjustitiellen Bereich zur Vermeidung von formellen Verfahren, z.B. Hilfen zur privaten und zivilrechtlichen Konfliktregelung. Insbesondere jedoch Hilfestellung zur Vermeidung von Untersuchungshaft durch die Vermittlung bzw. Bereitstellung einer Unterkunft und einer angemessenen rechtlichen Vertretung. 
Da in Frauengefängnissen der Anteil an Frauen, die Ersatzfreiheitsstrafen verbüßen, sehr hoch ist (mit durchschnittlich 10 Prozent liegt er um ca. 3 Prozent höher als bei Männern) und diese sich auf mehrere Jahre summieren können, sind insbesondere Projekte, die durch entsprechende Arbeitsangebote eine Umwandlung von Geldstrafen in Freiheitsstrafen verhindern, dringend erforderlich. Abgesehen von Angeboten der Freien Straffälligenhilfe besteht hier zudem dringender justizpolitischer Handlungsbedarf.

b) Unterstützung während des Ermittlungs- und Gerichtsverfahrens zur Wahrung ihrer Rechtsposition
Mangelnde Verbalisierungsfähigkeiten und Handlungskompetenzen sowie Unkenntnis der Verfahrensabläufe hindern straffällig gewordene Frauen häufig, ihre Rechte wahrzunehmen und sich angemessen zu verteidigen. Hier benötigen sie rechtliche Unterstützung sowie die psychosoziale Ermutigung, sich mit dem Tatvorwurf bzw. der Anklage auseinanderzusetzen und nicht durch Passivität, Problemverleugnung und Ohnmachtsgefühle ihre Situation zu verschlechtern. Auch hier gilt: Vermeidung von Untersuchungshaft, wo immer dies möglich ist.

c) Haftbegleitung und Entlassungs-Vorbereitung
Möglichst noch vor oder unmittelbar nach dem Haftantritt müssen Hilfestellungen zur Wohnraumerhaltung und der Habesicherung geleistet werden. Da Frauen häufig kurze Haftstrafen verbüßen, ist es in Kooperation mit dem zuständigen Sozialamt möglich, dass die Wohnung erhalten werden kann. So kann auch vermieden werden, dass sie ihre gesamte Habe verlieren. Während der Haft sind psychosoziale Beratung und Begleitung zur Verarbeitung der Straffälligkeit und der Erfahrung der Verurteilung und Inhaftierung erforderlich. Von hoher Wichtigkeit ist die Unterstützung zur Aufrechterhaltung der Kontakte zur Familie und dem sozialen Umfeld, soweit es dieses gibt. Dies betrifft insbesondere den Kontakt zu den Kindern. Bei Bedarf ist die Organisation der Kinderbesuche erforderlich. Für Frauen, die keinerlei Kontakte mehr nach „draußen“ haben, sollten Besuche durch ehrenamtliche Mitarbeiter organisiert werden. Hinzu kommen die Begleitung bei Ausgängen, die Vermittlung von Hafturlaubsunterkünften und die Unterstützung der Angehörigen.
Entscheidend ist eine gute Vorbereitung der Entlassung. Dadurch können auch die Voraussetzungen für vorzeitige Entlassungen (nach zwei Dritteln der Strafverbüßung) geschaffen und so die Haftzeit verkürzt werden. Da viele Frauen bei ihrer Inhaftierung ihre gesamte Habe verlieren, müssen Ausweispapiere und Zeugnisse etc. wiederbeschafft werden. Gültige Ausweispapiere sind insbesondere für Migrantinnen ohne deutsche Staatsangehörigkeit wichtig, weil sie sonst automatisch wieder eine Straftat begehen. Da zumeist keine Wohnung mehr vorhanden ist, muss für den Tag der Haftentlassung eine Unterbringungsmöglichkeit bereitgestellt bzw. beschafft und ihre Finanzierung sichergestellt werden. Soweit möglich sollte bereits vor der Entlassung mit der Suche nach einer Wohnung und, je nach den individuellen Voraussetzungen, einer Beschäftigungsmöglichkeit, einem Arbeits- oder Ausbildungsplatz sowie der Schuldenregulierung begonnen werden. Zudem muss eine anschließende Begleitung und Unterstützung für die erste Zeit nach der Haftentlassung gewährleistet sein. Die zumeist wohnortferne Inhaftierung von Frauen erschwert die Entlassungsvorbereitung und erfordert von den Mitarbeiterinnen der frauenspezifischen Straffälligenhilfe hohe Flexibilität und Mobilität.
Da das Gefängnis als totale Institution – neben allen Deprivationen – auch einen Schutz und Schonraum bietet, der in seiner Überschaubarkeit kaum Anforderungen stellt, ist die Haftentlassung nicht nur mit Freude, sondern vor allem mit Angst und Verunsicherung verbunden. Neben den Maßnahmen zur Existenzsicherung sind deshalb psychosoziale Begleitung, die Vertrauen in die Zukunft und die eigene Handlungsfähigkeit vermittelt, unerlässlich.

d) Hilfen zur Existenzsicherung und dem Aufbau einer Lebensperspektive nach der Haftentlassung
Sowohl lebensgeschichtlich als auch aufgrund der Inhaftierung eher an Anpassung, Unterordnung und Fremdbestimmung gewöhnt, müssen Frauen nach ihrer Haftentlassung mit Durchhaltevermögen und Durchsetzungsfähigkeit, zumeist völlig auf sich alleine gestellt, für sich und gegebenenfalls auch ihre Kinder eine neue Existenz und Lebensperspektive aufbauen. Hilfen zur Existenzsicherung bei der Suche und Einrichtung einer Wohnung, der Suche nach einer Beschäftigungsmöglichkeit, einem Arbeits- oder Ausbildungsplatz, der Beantragung von Sozialleistungen, der Auseinandersetzung mit Behörden, des Gesprächs mit Vermietern und Arbeitgebern sowie der Schuldenregulierung sind deshalb unabdingbar.
Gerade in dieser Zeit existentieller Verunsicherung muss die lebenspraktische Unterstützung mit psychosozialer Begleitung zur Stabilisierung und Ermutigung verknüpft sein und durchgängig von einer Vertrauensperson geleistet werden.
Kehren die Kinder nach der Haftentlassung zur Mutter zurück, muss die Mutter unterstützt werden, ihre Beziehung zum Kind und den Alltag des Kindes wieder zu gestalten und mit ihren Schuldgefühlen, das Kind alleine gelassen zu haben, zurechtzukommen. Auch hier kann alltagspraktische Hilfestellung z.B. bei der Suche nach einem Kindergartenplatz oder für den Kontakt mit der Schule etc. erforderlich sein. Wenn die Kinder nicht zurückkehren, weil sie aus ihren neuen Lebenszusammenhängen nicht wieder herausgerissen werden können, braucht die Mutter Unterstützung zur Bewältigung ihrer Trauer über den Verlust des Kindes sowie zur Ausübung ihres Umgangsrechtes und bei Bedarf Begleitung zu den Hilfeplangesprächen im Jugendamt.

5. Arbeitsweise

a) Gute Vernetzung im jeweiligen örtlichen Hilfesystem und Kooperation mit den beteiligten Behörden
Straffällig gewordene Frauen müssen sich – insbesondere nach einer Haftentlassung – mit einer Vielzahl von Institutionen und Behörden (z.B. Arbeitsamt, Jobcenter, Sozialamt, Jugendamt, Bewährungshilfe, Einrichtungen, in denen die Kinder untergebracht sind, u.v.m.) auseinandersetzen. Deren Handeln und manchmal sich widersprechenden Erwartungen müssen koordiniert und durchschaubar gemacht werden. Dazu müssen Einrichtungen der Straffälligenhilfe gut im örtlichen Hilfesystem vernetzt sein und mit den beteiligten Behörden kooperieren.
Um auf die Vielzahl der Probleme haftentlassener Frauen angemessen reagieren zu können, müssen zudem andere Hilfeangebote einbezogen bzw. an diese vermittelt werden, z.B. betreute Wohnmöglichkeiten und Übergangswohnraum, Ausbildungs- und Arbeitsprojekte, Beschäftigungsmöglichkeiten, Fachberatungsstellen (z.B. Suchtberatung, Erziehungsberatung, Paar- und Familienberatung, Familienhilfe, Therapieangebote und Traumaberatungsstellen).

b) Beziehungsarbeit und Ressourcen-Orientierung
Frauenspezifische Straffälligenhilfe arbeitet immer auf der Basis einer vertrauensvollen Beziehung, die auf der Grundlage von Freiwilligkeit und Verschwiegenheit, von Anerkennung, Wertschätzung und Respekt zwischen Beraterin und Klientin hergestellt werden muss. Der vertrauensvolle, unterstützende Kontakt soll sie ermutigen, über psychische Verletzungen und Ängste zu sprechen und sich ihrer Kompetenzen, Kreativität und Lösungsmöglichkeiten bewusst zu werden. Die Beziehungs- und Kommunikationsorientierung von Frauen ist dabei eine wichtige Kompetenz und Ressource, an die der Beratungsprozess anknüpfen kann. Auf dieser Basis können die Selbstheilungskräfte und Bewältigungsstrategien sichtbar und für die Zukunft nutzbar gemacht werden.

c) Unterstützung von Eigenständigkeit
Frauenspezifische Straffälligenhilfe macht ihre Klientinnen nicht zu Objekten, die versorgt werden müssen, sondern will sie in ihrem Bemühen um Eigenständigkeit und Verantwortlichkeit unterstützen. Sie nimmt dabei vorhandene persönliche und soziale Ressourcen zum Ausgangspunkt, bezieht sie ein und zielt auf Ich-Stärkung, Ermutigung und Steigerung des Selbstwertgefühls. Der Schwerpunkt liegt immer auf der Erweiterung ihrer Handlungskompetenzen und subjektiven Fähigkeiten zur Lebens- und Alltagsbewältigung. Dementsprechend wird jede Hilfestellung immer nur, soweit sie erforderlich und mit der betroffenen Frau abgesprochen ist, geleistet.

d) Aufsuchende Arbeit
Ihre lebensgeschichtlich erworbene und durch die Haft massiv verstärkte Neigung zu Passivität und Rückzug (Juliane Zolondek spricht von „erlernter Hilflosigkeit“) macht eine aufsuchende Hilfe erforderlich, bei der die Frauen auch zu Hause besucht werden und nach Wunsch zu Terminen bei Ämtern und Behörden begleitet werden, um sie mit Aufmerksamkeit und Wertschätzung bei der Artikulation und Durchsetzung ihrer Interessen und Wünsche zu unterstützen.

e) Supervision und Professionalität, Fortbildung
Frauenspezifische Straffälligenhilfe wird von professionellen und entsprechend ausgebildeten Fachkräften durchgeführt. Ihre Arbeit wird durch regelmäßige Supervision und Fortbildungsmaßnahmen unterstützt. Zusatzausbildungen in Gesprächsführung und psychosozialer Beratung sind von großem Nutzen und sollten absolviert werden. Ehrenamtliche Mitarbeiterinnen einzubeziehen, ist eine wichtige Ergänzung der professionellen Arbeit. Sie können aber Fachkräfte nicht ersetzen und benötigen zudem fachliche Anleitung.
f) Dokumentation
Als professionelle Arbeit unterliegt frauenspezifische Straffälligenhilfe fachlicher Kontrolle und Selbstkontrolle. Ein wichtiges Instrument der Kontrolle ist die Dokumentation, die der Darstellung, Nachvollziehbarkeit und Überprüfung der geleisteten Arbeit und ihrer Ergebnisse dient. Sie ist damit auch ein Instrument der Qualitätssicherung. Für die Dokumentation müssen einzelfallbezogene Daten erhoben werden, die sowohl soziodemographische Angaben als auch Aussagen über die Lebenssituation und Problemfelder sowie die ergriffenen Maßnahmen und deren Wirkung beinhalten. Anhand dieser Daten soll sowohl die Qualität als auch die Wirksamkeit der Arbeit dargestellt und nachvollzogen werden können. Wichtig ist auch immer die Frage, wie viele Frauen mit dem entsprechenden Bedarf das Hilfsangebot auch tatsächlich erreichen konnte.
g) Öffentlichkeits- und Gremienarbeit
Die kleine Gruppe straffällig gewordener Frauen braucht eine konsequente und parteiliche Interessensvertretung, die von der frauenspezifischen Straffälligenhilfe geleistet werden muss. Öffentlichkeits- und Gremienarbeit sind hierfür wichtige Instrumente, die auf kommunaler und überregionaler Ebene auf- und ausgebaut werden sollten. Sie dient zum einen der erforderlichen Vernetzung im jeweils kommunalen Hilfesystem und zum anderen der Herstellung von Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit für die spezifischen Belange straffällig gewordener Frauen und ihrer Kinder sowie der erforderlichen Hilfen.
h) Finanzierung
Frauenspezifische Straffälligenhilfe ist ein eigenständiges Handlungsfeld, das zur Verbesserung der Lebenssituation und Lebensperspektiven der betroffenen Frauen und ihrer Kinder beiträgt. Die Erfahrung zeigt, dass so der Kreislauf aus fehlender Lebensperspektive, Kriminalität und Inhaftierung durchbrochen und Straffälligkeit verhindert werden kann. Durch die Einbeziehung der Kinder können auch deren Lebenschancen positiv beeinflusst werden. Frauenspezifische Straffälligenhilfe leistet damit einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Inklusion. Um ihre Leistungen bedarfsgerecht anbieten zu können, muss sie ausreichend finanziell ausgestattet sein. Neben dem Engagement der Träger Sozialer Arbeit ist die finanzielle Förderung durch die zuständigen Justiz- und Sozialministerien sowie, da es auch um die Verhinderung von Obdachlosigkeit geht, der Kommunen dringend erforderlich.

Zum Schluss
Die hier vorgelegten Grundlagen frauenspezifischer Straffälligenhilfe sind eine Weiterentwicklung der Leistungs- und Qualitätsstandards in der frauenspezifischen Straffälligenhilfe, die von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe (BAG-S) e.V. im Jahr 1999 herausgegeben wurden. Sie basieren auf den Erfahrungen der wenigen Einrichtungen frauenspezifischer Straffälligenhilfe, die es in Deutschland gibt, und geben deren Stand der Reflexion und Diskussion wieder. Einige dieser Einrichtungen sind im Fachausschuss Frauen der BAG-S vertreten und haben diese Grundlagen verabschiedet. Sie sollen dazu beitragen, die Diskussion über die Bedürfnisse von straffällig gewordenen Frauen zu vertiefen und das fachspezifische Wissen zu erweitern. Sie sollen zudem eine Handreichung für die Praxis sein, überall da, wo mit straffällig gewordenen Frauen gearbeitet wird. Mangels frauenspezifischer Einrichtungen sind andere Hilfeangebote sowohl in der Straffälligenhilfe als auch in anderen Bereichen sozialer Arbeit mit straffällig gewordenen Frauen konfrontiert. Bleibt zu hoffen, dass sich die Grundlagen gerade für diese als hilfreich erweisen und zum Problemverständnis beitragen.

Forderungen des Fachausschuss Frauen:

  1. Frauenspezifische Straffälligenhilfe ist von weiblichen Fachkräften zu leisten.
  2. Die Beraterinnen müssen entsprechend fort- und weitergebildet werden und auch konzeptionell frauenspezifisch arbeiten.
  3. Beratungsstellen müssen in direkter Nähe zu den Justizvollzugsanstalten liegen. Externe Sozialdienste müssen in den Haftanstalten regelmäßig Sprechstunden anbieten, die in einer geschützten Atmosphäre stattfinden.
  4. Förderung von regional und überregional agierenden Netzwerken der frauenspezifischen Straffälligenhilfe.
  5. Genügend finanzielle und zeitliche Ressourcen für den erhöhten Betreuungsaufwand der Beraterinnen, der durch die oftmals heimatferne Unterbringung der inhaftierten Frauen verursacht wird.
  6. Intensivierung der Lobbyarbeit und Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Belange straffällig gewordener Frauen
  7. Statistische Daten zum Strafvollzug und Straffälligenhilfe müssen nach Geschlecht differenziert erhoben und dargestellt werden.

Mitglieder des FA Frauen:
Baumann, Christina (Perspektivwechsel Frankfurt),
Halbhuber-Gassner, Lydia (SkF Landesverband Bayern, München),
Kummerow, Almuth (AWO Anlaufstelle für straffällig gewordene Frauen, Frankfurt)
Marbach-Kliem, Bärbel (SkF Augsburg)

Zitierte Literatur:
Zolondek, J. (2007): Lebens- und Haftbedingungen im deutschen und europäischen Frauenstrafvollzug. Godesberg.