Empfehlung der BAG-S: Family Mainstreaming: Wir dürfen nicht die Kinder strafen

Family Mainstreaming: Wir dürfen nicht die Kinder strafen.

 

„Im sechzigsten Jahr des Grundgesetzes wäre es Zeit zu überlegen, wie Haft familienverträglich

gestaltet werden kann.“1

Wir fordern eine familiensensible Gestaltung des Strafvollzugs!

Wenn Angehörige ins Gefängnis müssen, leidet die ganze Familie – vor allem die

Kinder. Denn dann ist nichts mehr, wie es war: Partnerinnen und Partner sind plötzlich

alleinerziehend, die materielle Situation der Familie verschlechtert sich oftmals

dramatisch, und der Verlust von Vater oder Mutter stürzt Kinder in Trauer, Scham,

Schuldgefühle, Zweifel und Ängste.

Häufig werden sie über den Verbleib des abwesenden
Familienmitglieds belogen oder täuschen ihrerseits ihr Umfeld. Dann ist Papa
„ auf Montage“ oder „in Kur“, damit niemand in der Schule oder der Nachbarschaft
erfährt, was wirklich passiert ist. Nicht selten verlieren Mütter und Väter durch die
veränderte Lebenssituation, durch die Haft oder durch existenzielle Sorgen und Einsamkeit
den Blick für die Not und die Bedürfnisse ihrer Kinder. Viele Kinder verlieren
ihr Vertrauen in die Eltern oder entwickeln psychische Auffälligkeiten. Partnerschaften
scheitern, Familien zerbrechen. Unterstützungsangebote sind Mangelware. Und
dort, wo Angehörige große Anstrengungen unternehmen, die familiären Beziehungen
aufrecht zu erhalten, haben sie mit den familienfeindlichen Bedingungen der Haft zu
kämpfen. Dann wird das Familienleben auf die spärlichen und nicht immer kindgerechten
Besuchszeiten der JVA beschränkt. Meist können nur die dringlichsten Angelegenheiten
besprochen werden, für Gefühle und Nähe bleibt kaum Zeit und
Raum.

Dabei brauchen Kinder gerade in einer solchen Ausnahmesituation eine stabile Beziehung
zu beiden Elternteilen. Sie brauchen das Gefühl und die Sicherheit, dass
auch der inhaftierte Elternteil noch für sie da ist. Sie brauchen Unterstützung, damit
die Verbindung zum inhaftierten Vater oder zur inhaftierten Mutter erhalten bleibt.
Partnerinnen und Partner von Inhaftierten brauchen den Kontakt, um weiterhin ge meinsame Entscheidungen treffen zu können. Und für die Inhaftierten ist der Rückhalt durch die Familie ein wesentlicher Baustein ihrer Resozialisierung. Eine feste
Beziehung zu Angehörigen und zu den Kindern, die Sorge um deren Zukunft, kann
eine große Motivation sein, neue Lebensperspektiven zu entwickeln und sich in die
Gesellschaft zu integrieren.
Family Mainstreaming kann das ändern
Eine halbe Million Menschen sind nach Schätzungen in Deutschland von der Inhaftierung
eines Angehörigen und von den familienfeindlichen Folgen betroffen. Kinder
Inhaftierter zahlen dafür den höchsten Preis. Dabei bekräftigt die von der Bundesregierung
ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) das Recht des Kindes auf
Familie, Fürsorge und regelmäßigen Umgang mit beiden Elternteilen. Das Grundgesetz
stellt in Artikel 6 Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates.
Freiheitsentzug als Sanktion für strafbares Verhalten ist demgegenüber nachgeordnetes
Recht.
Die Partnerinnen und Partner und vor allem die Kinder von Inhaftierten dürfen nicht
länger mit bestraft werden! Die Belange von Kindern, Eltern und Angehörigen müssen
auch im Strafvollzug konsequenter als bisher berücksichtigt werden. Der positive
Einfluss einer Familie, die Betreuung und Fürsorge, Unterstützung und Rückhalt bietet,
muss für die Gesundheit und die Resozialisierung der Inhaftierten gestärkt werden.
Auch im Rahmen des Strafvollzugs können Möglichkeiten geschaffen werden, den
Erhalt der Familie zu fördern und Entfremdung zu verhindern. Dies kann gelingen,
wenn künftig das Prinzip des Family Mainstreamings berücksichtigt wird, d. h. wenn
Strafvollzugsmaßnahmen durchgängig daraufhin geprüft werden, wie der familiäre
Rückhalt gesichert und die Rechte der Angehörigen berücksichtigt werden können
Family Mainstreaming eröffnet damit dem Staat die Möglichkeit, soziale Fürsorge
und gesellschaftliche Verantwortung für Familien straffälliger Eltern und Kinder auch
im Falle der Verhängung unvermeidlicher Freiheitsstrafen zu übernehmen. Gleichzeitig
werden erhebliche volkswirtschaftliche Folgekosten vermieden, wenn frühzeitig
Eltern-, Kind- und Familienmaßnahmen im Vollzug verwirklicht werden. Family
Mainstreaming ist ein Schlüssel für einen humanen, auf Wiedereingliederung und
Teilhabe zielenden Umgang mit Straffälligen und ihren Angehörigen.
Eine nach dem Family Mainstreaming familienverträgliche Ausgestaltung des Strafvollzuges
muss folgende Punkte beachten:
1. Das Konzept des Family Mainstreamings ist bei allen gerichtlichen und vollzuglichen
Entscheidungen von Anfang an und durchgehend zu berücksichtigen.
2. Die Landesjustizministerien tragen Sorge dafür, dass jede Vollzugsanstalt einen
Kinder- und Familienbeauftragten bestellt, der die Maßnahmen der JVA
aus Sicht der Kinder und Partner von Strafgefangenen prüft und mitgestaltet.
3. Das JVA-Personal muss geschult werden, mit Angehörigen und Kindern wertschätzend
und sensibel umzugehen, um ihnen die schwierige Situation in der
JVA zu erleichtern.
4. Um ein geregeltes Familienleben zu fördern, sind straffällige Eltern vorrangig
in den offenen Vollzug zu verlegen.
5. Zudem sind bei straffälligen Eltern alternative Sanktionsarten wie Hausarrest,
elektronisches Monitoring und familienintegrative Vollzugsformen bevorzugt
anzuwenden.
6. Eine heimatnahe Unterbringung senkt die finanziellen und zeitlichen Hürden
für Besuche von Angehörigen, vor allem der Kinder.
7. Dazu gehören auch bedarfsgerechte Besuchszeiten für Kinder und Partnerinnen/
Partner, d. h. zusätzliche und längere Besuchstermine sowie flexible Besuchszeiten,
die über das gesetzlich vorgeschriebene Maß hinausgehen.
8. Besuchsräume müssen kind- und familiengerecht gestaltet werden, z. B. mit
einer Spielecke. Die Nutzung von Langzeitbesuchsräumen kann familienähnliche
Situationen ermöglichen.
9. Möglichkeiten des telefonischen Kontaktes und des Kontaktes per Internet
(Skype) sind auszubauen, um den Kontakt auch zwischen den Besuchen lebendig
zu halten.
10. Partner-, Ehe-, und Familienseminare sowie spezielle Eltern-Kind Maßnahmen
(Vater/Mutter-Kind-Gruppen) in und außerhalb der Haftanstalt tragen wesentlich
dazu bei, Kindern und Angehörigen die krisenhafte Lebenssituation zu
erleichtern. Väter und Mütter lernen, ihren Kindern beizustehen (lernen, den
Umgang miteinander bewusst zu gestalten, auf ihre Sorgen und Ängste einzugehen)
und wichtige Faktoren eines Familienlebens (intensive Gespräche,
Spiel, Körperkontakt) aufrecht zu erhalten.
11. Bei besonderen Lebensereignissen (Taufe, Einschulung, schwere Erkrankung
des Kindes u. ä.) sollten im Sinne der Kinder und des familiären Zusammenhalts
gesonderte Ausgangsmöglichkeiten geschaffen werden.
12. Die genannten Angebote brauchen eine wissenschaftliche Evaluierung, die
dabei hilft, deren Wirksamkeit und Reichweite bei künftigen Planungen besser
berücksichtigen zu können. Auf dem Weg zu einer bedarfsgerechten Angebotsstruktur
ist es ferner geboten, die Grundlagen für eine statistische Erfassung
der betroffenen Kinder zu schaffen.
Angehörige von Inhaftierten tragen eine individuelle, aber zugleich auch eine gesellschaftliche
Last. Der Staat hat die Pflicht, Familien, die unverschuldet in schwierige
Lebenssituationen geraten und zugleich der Grundstein für eine erfolgreiche Wiedereingliederung
von Straffälligen in die Gesellschaft sind, zu unterstützen. Die konsequente
Anwendung des Family Mainstreamings zeigt einen Weg auf, dieser politischen
Verantwortung gerecht zu werden.

* Heribert Prantl in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 270 vom 20.11.08, S. 4

Herausgeber
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