Elektronische Fußfessel mit dem Grundgesetz vereinbar

Das Bundesverfassungsgericht entschied am 01. Dezember 2020, dass die gesetzlichen Regelungen zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Lesen Sie hier die Einschätzung des bremischen Rechtsanwaltes Prof. Dr. iur. habil. Helmut Pollähne zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts.

 

Die „Elektronische Fußfessel“ mag zwar nicht verfassungswidrig sein ...

Rechtsanwalt Prof. Dr. iur. habil. Helmut Pollähne, Bremen

Die erst jetzt veröffentliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 1. Dezember 2020: 2 BvR 916/11 und 636/12) kam nicht überraschend, eher schon, dass sie überhaupt noch kam. Exakt zehn Jahre nach Inkrafttreten der gesetzlichen Regelungen zur „Elektronischen Aufenthaltsüberwachung (EAÜ)“ und mehr als neun Jahre nach Erhebung zweier Verfassungsbeschwerden davon Betroffener nun also der Segen aus Karlsruhe: Die EAÜ-Regelungen seien ebenso verfassungsgemäß wie die darauf gestützten Entscheidungen der Gerichte in Rostock.

Es ging „um die Klärung einer Frage von grundsätzlicher Bedeutung“, was sicher nicht die überlange Verfahrensdauer rechtfertigt, aber immerhin – schlechtes Gewissen? – die Übernahme der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführer. Die Fragen von grundsätzlicher Bedeutung bezogen sich auf nicht weniger als die Menschenwürde und das Resozialisierungsgebot (Art. 1 und 2 GG) sowie die informationelle Selbstbestimmung und – last but not least – Normenklarheit und Verhältnismäßigkeit. Die EAÜ greife, so die Verfassungshüter (a.a.O. Leitsatz 2.a.), weder „in den Kernbereich privater Lebensgestaltung“ ein, noch führe sie zu einer „mit der Menschenwürde unvereinbaren >Rundumüberwachung<“. Dass die Betroffenen das nachvollziehbar anders sehen, wird hingenommen „zum Schutz der hochrangigen Rechtsgüter des Lebens, der Freiheit, der körperlichen Unversehrtheit und der sexuellen Selbstbestimmung Dritter“ (a.a.O. Rn. 294).

Die Resozialisierung werde nicht erschwert, oder doch jedenfalls nicht „wesentlich“; das EAÜ-Gerät zu verbergen sei möglich, oder doch jedenfalls „nicht unmöglich“; die von den Beschwerdeführern beklagte „Brandmarkung“ sei nicht festzustellen, oder doch jedenfalls „nicht sichtbar“. Dass das BVerfG sich mit alledem zufrieden gibt, befremdet. Nach derzeitiger Rechts- und Sachlage entstehen durch den EAÜ-Einsatz offenbar noch keine Persönlichkeitsprofile und/oder Bewegungsbilder – andernfalls wäre wohl auch für Karlsruhe die Grenze der Unzumutbarkeit überschritten (dazu Wolfgang Janisch in der SZ www.sueddeutsche.de/politik/ueberwachung-bindendes-recht-1.5196411). Bis zu solchen Grenzüberschreitungen wären es aber nur noch kleine Schritte: Die EA-Überwachung bedarf dringend der GG-Überwachung!

Das Gesetz (§ 68b Abs. 1 S. 3 StGB) fordert eine doppelte Prognose: Dass der Betroffene ohne die EAÜ-Weisung weitere schwere Straftaten begehen werde und dass sie geeignet und erforderlich sei, ihn von der Begehung solcher Taten abzuhalten und zur Überwachung der damit zumeist in Verbindung angeordneten Aufenthalts- und/oder Kontaktweisungen (aaO S. 1 Nr. 1 und 2) beizutragen. Das BVerfG weicht der mit diesen Prognosen verbundenen Problematik – sowohl im Grundsätzlichen als auch en detail – erneut aus (so auch die berechtigte Kritik von Prof. Jörg Kinzig www.lto.de/recht/hintergruende/h/bverfg-2bvr91611-elektronische-fussfessel-ueberwachung-sexualstraftaeter-fuehrungsaufsicht-grundrechte-verfassungsbeschwerden/): Diese Gefahr müsse nur „hinreichend konkret absehbar“ sein, dafür reiche eine „begründete Wahrscheinlichkeit“ (Rn. 280/281) – eines Gutachtens bedürfe es aber nicht zwingend. Das radikale Präventionsrecht der Maßregeln im StGB steht und fällt mit diesen Prognosen. Das BVerfG macht es sich zu leicht, über damit einhergehenden Probleme – wie geschehen – erneut achselzuckend hinwegzugehen.

Man könnte sich damit trösten, dass die Zahl der Betroffenen – zumeist geht es um sog. „Vollverbüßer“ (§ 68f StGB) – gering ist: derzeit insg. wohl etwas mehr als 120 Personen bundesweit, jährlich weniger als 10 Anordnungen,, Tendenz aber steigend (s. auch Kinzig aaO). Die Gerichte machten von dem Instrumentarium (so das BVerfG aaO Rn. 256) offenbar „überwiegend zurückhaltend“ Gebrauch. Das Grundgesetz muss sich aber gerade auch im Einzelfall beweisen: Die Schwere des Eingriffs rechtfertigt es nicht, zur Legitimation u.a. auf die geringe Fallzahl zu verweisen!

Ebenso wenig akzeptabel erscheint, die Legitimation der EAÜ quasi paternalistisch – zumindest auch – auf deren (vermeintlichen) Beitrag als „unterstützende und überwachende Begleitung des Verurteilten im Interesse seiner Wiedereingliederung“ sowie zu seinen eigenen Schutz „vor erneuter Straffälligkeit“ zu stützen (so aber das BVerfG a.a.O. Rn. 260). Wenn es dabei wenigstens um Fälle ginge, bei denen der Betroffene in die EAÜ gewissermaßen – wenn auch letztlich notgedrungen – eingewilligt hat, um eine weitere Freiheitsentziehung abzuwenden (Subsidiarität). Die Realität ist eine andere, insb. in den Vollverbüßer-Fällen.

Ein Lichtblick der vorliegenden Entscheidung: Der Gesetzgeber sei verpflichtet, so das BVerfG (aaO Leitsatz 4), die „spezialpräventiven Wirkungen und technischen Rahmenbedingungen der elektronischen Aufenthaltsüberwachung empirisch zu beobachten und das gesetzliche Regelungskonzept ggf. den dabei gewonnenen Erkenntnissen anzupassen“. Dies freilich vor folgendem Hintergrund: Auch wenn es bisher „an zweifelsfreien empirischen Nachweisen“ fehle, dass die EAÜ „zu einer Verminderung des Risikos erneuter Straffälligkeit“ führt, könne nicht angenommen werden, so das BVerfG, dass deren Einsatz mit Blick auf die Rückfallhäufigkeit „generell wirkungslos“ bleibt. Insoweit gelte für die EAÜ nichts anderes als für das Instrument der Führungsaufsicht insgesamt, das vom BVerfG nämlich „ungeachtet eines fehlenden empirischen Wirksamkeitsnachweises [ebenfalls] als eine zur Rückfallprävention geeignete Maßnahme“ qualifiziert worden sei. Dem stehe auch der Hinweis der Beschwerdeführer auf einzelne Fälle rückfälliger Weisungsbetroffener nicht entgegen, denn auch daraus könne nicht auf die generelle Ungeeignetheit der „elektronischen Fußfessel“ zur Reduzierung des Rückfallrisikos geschlossen werden (aaO Rn. 264).

Dass in puncto Kriminalprävention im Allgemeinen und Maßregelrecht im Besonderen alles erlaubt sein soll, was nicht „generell ungeeignet bzw. wirkungslos“ ist, kann in einem Rechtsstaat nicht das letzte Wort sein. Die „empirische Beobachtung“ (die das BVerfG vorab auch schon zum Jugendstrafvollzug, zur Cannabis-Kriminalisierung oder zur Verständigung im Strafverfahren eingefordert hatte – bisher durchweg ohne Konsequenzen) ist nach jetzt zehnjähriger EAÜ-Praxis umso vehementer einzufordern!

Die „Elektronische Fußfessel“ mag zwar nicht verfassungswidrig sein ... ein Irrweg ist sie allemal. Auch entstehungsgeschichtlich handelt es sich um eine ambulante Sicherungsverwahrung: Die EAÜ war entwickelt worden, nachdem der EGMR die nachträgliche Verlängerung oder Anordnung der Sicherungsverwahrung für unvereinbar mit der EMRK erklärt hatte – weshalb zahlreiche Gefangene entlassen werden mussten. Da sie weiterhin für gefährlich erachtet wurden, sann der Sicherheitsstaat auf lückenlose Überwachung. Die Überwachung kam und blieb, auch in Gestalt der EAÜ – das Narrativ von der großen Gefährlichkeit der Betroffenen entpuppe sich in der Nach-Forschung jedoch als Legende (vgl. nur www.thomasfeltes.de/pdf/vortraege/2011_Alex_Feltes_Manuskript_Bad_Boll_kurz.pdf).

Niemand sollte sich nach der Entscheidung des BVerfG zurücklehnen: Die weitere Entwicklung bleibt sorgfältig zu beobachten, immerhin ist der Anwendungsbereich bereits einmal erweitert worden (vgl. www.cilip.de/2017/03/16/vom-probeballon-zum-gesetzentwurf-elektronische-aufenthaltsueberwachung-gegen-salafisten/ und www.kj.nomos.de/fileadmin/kj/doc/2017/2017_02/KJ_17_02_Kaiser_Gefaengnis.pdf). Dabei wird gerade auf das „E-Fußfessel-homeland“ Hessen Acht zu geben sein: Von dort werden immer mal wieder Ausweitungen propagiert (vgl. nur www.praeventionstag.de/dokumentation/download.cms?id=2510&datei=Fuenfsinn_Kolz_Vortrag-DPT-2016-2510.pdf), und nun geht auch Niedersachsen voran (www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Havliza-Elektronische-Fussfessel-ein-unverzichtbares-Mittel,fussfessel274.html).

 

Die Pressemitteilung "Erfolglose Verfassungsbeschwerde zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung („elektronische Fußfessel“)" des Bundesverfassungsgerichts vom 04. Februar 2021 können Sie hier einsehen.