Einkommen oder Vermögen? Tipps für die Beratungspraxis

In der Beratungsarbeit der Straffälligenhilfe bereiten die Themen Anrechnung des Überbrückungsgeldes auf HARTZ IV-Leistungen sowie Krankenversicherung bei Haftentlassung oftmals Probleme, da unterschiedliche Meinungen und Verfahrensabläufe existieren. Eine Orientierung für die Beratungspraxis können Ihnen folgende Informationen bieten.

Neben der aktuellen Rechtssprechung finden Sie hier die Handreichung "Sozialrecht Justament", die praxisnah über "SGB II / SGB XII und Inhaftierung" berichtet und von Beckhäuser und Eckhardt (www.sozialpaedagogische-beratung.de) herausgegeben wird. Der folgende Ausschnitt ist daraus entnommen:

Anrechnung von Überbrückungsgeld im SGB II oder die Frage, wann die Haft endet

Seit Einführung des SGGG-Berlin/ pixelio.deB II ist strittig, ob das Überbrückungsgeld nach § 51 StVollzG als Einkommen anzurechnen ist. Wenn das Überbrückungsgeld als Vermögen gewertet wird, bleibt es aufgrund der Vermögensfreibeträge in den meisten Fällen anrechnungsfrei. Eine Anrechnung als Einkommen führt dagegen dazu, dass sich der SGB II Anspruch nahezu in Höhe des Überbrückungsgeldes reduziert.

 

Das Bundessozialgericht hat in einer grundlegenden Entscheidung (B 14 AS 94/10 R vom 6.10.2011) klargestellt, dass das Überbrückungsgeld genauso wie anderes Einkommen zu behandeln ist: Wenn Überbrückungsgeld vor der Antragsstellung zufließt, ist es zum Zeitpunkt der Antragsstellung Vermögen, wenn es am Tag der Antragstellung oder später zugeht, wird es als einmaliges Einkommen angerechnet. Damit schien eine klare Rechtsprechung zu bestehen. Das Urteil des Bundessozialgerichts bezog sich allerdings auf den Gesetzesstand vor dem 1.4.2011. Damals begründete ein Antrag auf SGB II Leistungen einen Anspruch ab Tag der Antragstellung. Seit dem 1.4.2011 wirkt dagegen ein Antrag auf den Ersten des Monats zurück. Der Beginn der Bedarfszeit ist nicht mehr mit dem Tag der Antragstellung identisch.
Die Bundesagentur für Arbeit ist nun der Meinung, dass das Überbrückungsgeld anzurechnen sei, wenn es im Monat der Antragstellung zufließt. Im aktuellen Durchführungshinweis (Randziffer 11.76) der Bundesagentur für Arbeit heißt es:
Sofern SGB II-Leistungen noch im Monat der Haftentlassung beantragt werden - egal ob als Neuantrag oder wenn der Entlassene zu seiner bereits bestehenden BG zurückkehrt - ist das Überbrückungsgeld im Rahmen der Antragsrückwirkung des § 37 Abs. 2 Satz 2 zu berücksichtigen; d. h. es ist auch dann Einkommen, wenn es bereits vor dem Entlassungstag oder vor dem Tag der Antragstellung zugeflossen ist (siehe auch FH zu § 37, Rz. 37.2 und FH zu § 7, Kap. 6.1). Das Überbrückungsgeld ist als einmalige Einnahme zu berücksichtigen (vgl. Kap. 1.3)

Die Bundesagentur für Arbeit stellt damit

1. die rückwirkende Wirkung des Antrags mit einer fiktiven Vorverlegung der Antragstellung gleich.
2. Die Bundesagentur rechnet nun auch Einkommen als bedarfsmindernd an, das vor dem Beginn des Leistungsanspruchs erzielt wird

Zu Recht hat das Bayerische LSG in einer aktuellen Entscheidung klargestellt, dass bei der Differenzierung zwischen Einkommen und Vermögen nach der Zuflusstheorie allein die Bedarfszeit von Bedeutung sein kann und nicht der Zeitpunkt der Antragstellung.
Da das BSG nur deshalb auf die Zeit der Antragstellung abstellte, weil diese aus seiner Sicht den Beginn des Leistungszeitraums definierte, und im Übrigen an die Rechtsprechung des BVerwG, das den Beginn des Bedarfszeitraums für maßgeblich hielt, anknüpfen wollte, ist davon auszugehen, dass es auch aus der Argumentation des BSG heraus konsequent ist, bei einer Rückwirkung der Antragstellung den Beginn des Leistungszeitraums für maßgeblich zu erachten. (LSG Bayern L 16 AS 202/11 vom 21.3.2012, Revision anhängig)

Die von der Bundesagentur für Arbeit vertretene Rechtsauffassung, dass das Überbrückungsgeld selbst dann angerechnet werden kann, wenn es vor dem Entlassungstag - also vor der Bedarfszeit - zugeflossen ist, ist daher abzulehnen. Faktisch spielt diese Rechtsauffassung im Falle des Überbrückungsgeldes erst mal keine Rolle, weil eine Auszahlung des Überbrückungsgeldes am Tag der Entlassung stattfindet und nicht davor. Die entscheidende Frage lautet nun:

Unterliegt der Haftentlassene am Tag seiner Entlassung den Regelungen des SGB II oder ist er an diesem Tag noch von SGB II Leistungen ausgeschlossen?

Die Bundesagentur hat am 21.5.2012 klargestellt, dass nach ihrer Meinung der Ausschluss mit dem Tag des Haftantritts beginnt, der Entlassungstag aber nicht zur Haftzeit gehört. Damit fällt das Überbrückungsgeld in den Zeitraum des SGB II Leistungsbezugs (Bedarfszeit), wenn noch im gleichen Monat ein Antrag auf Leistungen gestellt wird.
Der Leistungsausschluss greift mit dem ersten Tag der Unterbringung. Am Entlassungstag liegt kein Ausschluss mehr vor.
(Klarstellende Änderung der Bundesagentur für Arbeit vom 21.5.2012; Randziffer 7.34)
Dieser Rechtsmeinung, die auch vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales geteilt wird, hat nun vehement das Bundesjustizministerium widersprochen. In einem Schreiben vom 11.9.2012 an das BMAS legt das Justizministerium dar, dass der Entlassungstag zur Haftzeit gehört.
„Der Tag der Haftentlassung ist vollstreckungs- und vollzugsrechtlich als Hafttag anzusehen (mit verschiedenen Nachweisen). Aus dem Gesetz ergibt sich in § 16 StVollzG (bzw. den entsprechenden Normen in den Strafvollzugsgesetzen der Länder) lediglich, dass eine Entlassung bereits im Verlaufe des Vormittags durchgeführt werden soll, aber keineswegs zwingend erfolgen muss. Eine Auswirkung auf die rechtliche Einordnung als Haftzeit kann sie mithin nicht entfalten. Für die Bedarfszeit nach dem SGB II ist diese Regelung ebenfalls unerheblich, diese kann wegen § 7 Absatz 4 Satz 2 SGB II erst nach dem rechtlichen Ende der Freiheitsentziehung um 00:00 Uhr des Folgetages beginnen
.

In der Folge bedeutet dieses für das Justizministerium:
„Für die Anrechnung des Überbrückungsgeldes bleibt es somit bei der Wertung als Vermögen“
(Schreiben vom 11.9.2012 an das BMAS)
Bisher hält die Bundesagentur an ihrer eigenen sozialrechtlichen Interpretation des Endes der Haftzeit fest. Nach Ansicht des BMAS bestünde faktisch schon am Tag der Haftentlassung die Möglichkeit der Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses.

Kommentar:

Der Streit um die Anrechnung von Überbrückungsgeld wird aufgrund der unterschiedlichen Rechtsauffassungen der Ministerien weitergehen. Die Lebenswirklichkeit der Haftentlassenen spielt bei den Überlegungen keine Rolle. Würde der Gesetzgeber dem Überbrückungsgeld einen besonderen Zweck zuweisen, bliebe es im SGB II nach § 11a Abs 3 anrechnungsfrei. So könnte § 51 StVollzG Abs. 1 z.B. in folgendem Sinne geändert werden:

Statt:
… ist ein Überbrückungsgeld zu bilden, das den notwendigen Lebensunterhalt des Gefangenen und seiner Unterhaltsberechtigten für die ersten vier Wochen nach seiner Entlassung sichern soll

sollte es heißen:
…ist ein Überbrückungsgeld zu bilden, das den besonderen persönlichen Aufwendungen zur sozialen Integration des Gefangenen nach seiner Entlassung dienen soll …(Vorschlag meinerseits)

Hier wäre dann ganz klar, dass das Überbrückungsgeld nicht angerechnet wird. Da das Überbrückungsgeld auch den Charakter eines angesparten Vermögens hat, kann hierin auch kein ungerechtfertigter Vorteil gesehen werden.
Der Streit zwischen dem Justizministerium und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales geht an der sozialen Wirklichkeit vorbei. Die Meinung des Justizministeriums mag zwar für die Betroffenen positiv sein, überzeugt aber wenig für den Kontext des SGB II. Auch wenn der Haftentlassene vollzugsrechtlich noch in Haft ist, befindet er sich tatsächlich aber nicht in Haft. Sozialrechtlich sind aber nur die tatsächlichen Sachverhalte relevant. Würde das Bundesjustizministerium Recht haben, hätte der Haftentlassene am Tag der Entlassung keine sicheren sozialrechtlichen Ansprüche, wenn er ohne Überbrückungsgeld aus der Haft entlassen wird. Ein SGB II-Leistungsanspruch wäre nicht vorhanden, er könnte nur SGB XII-Leistungen für einen Tag beantragen.
Aus den genannten Gründen ist eine neue gesetzliche Regelung (wie vorgeschlagen) für das Überbrückungsgeld notwendig.

Überbrückungsgeld "schon lange ausgegeben"- was passiert

Überbrückungsgeld, das höher als der monatliche Bedarf ist, wird als einmaliges Einkommen (auf sechs Monate verteilt) mit der SGB II Leistung aufgerechnet.
Was passiert aber nun, wenn der Haftentlassene gutgläubig sein Überbrückungsgeld schon vollständig ausgegeben hat? Hier gilt, dass der Betroffene nur auf für den Lebensunterhalt „bereite Mittel“ verwiesen werden kann. In diesem Fall muss das Jobcenter ohne Anrechnung eines „fiktiven“ Einkommens den vollen Leistungsanspruch gewähren (vgl. B 14 AS 33/12 R vom 29.11.2012).
Was passiert, wenn der Haftentlassene „bösgläubig“ sein Überbrückungsgeld ausgegeben hat, damit das Jobcenter die volle Leistung gewähren muss? Auch hier muss das Jobcenter ohne Anrechnung die Leistung gewähren. Aber: Das Jobcenter kann einen Ersatzanspruch wegen sozialwidrigen Verhaltens geltend machen, und diesen Anspruch mit 30 Prozent des Regelbedarfs während des Hilfebezugs aufrechnen.
„Bösgläubigkeit“ nachweisen, muss allerdings der SGB II-Leistungsträger.