„Das Schweigen überwinden“ – Kinderbücher zum Thema "Elternschaft und Haft"

„Nicht alles was Kinder erleben, eignet sich dafür, dass Kinder es lesen“ – wer würde dieser Aussage Erich Kästners (Kästner für Kinder, Bd. 1, Zürich 1985, S.452), einer der erfolgreichsten Kinderbuchautoren, heute schon noch folgen wollen? Doch sie führt uns zu einer grundlegenden Frage in unserer Gesellschaft:

Ist es tragbar, Kinder einerseits ganz selbstverständlich mit Lebenssituationen zu belasten, die andererseits keinen Eingang finden dürfen in die heiter-unbeschwerte Welt der Kinderbücher? Und wie sinnvoll ist diese fehlgeleitete Feinfühligkeit, wo doch von vielen Kindern erwartet wird, mit Situationen umzugehen, die selbst für Erwachsene kaum zu bewältigen sind?

Die Frage nach der scheinbaren Tragbarkeit wird beantwortet durch die verschwindend geringe Zahl von Kinderbüchern, die sich dem Thema „Haft einer nahen Bezugsperson eines Kindes“ widmen. Die Sinnhaftigkeit dieses Verhaltens muss allerdings hinterfragt werden.
Uns ist bewusst, dass die Bewältigung einer traumatischen Situation besonders für Kinder leichter gelingt, wenn sie ihre eigenen Gedanken, Gefühle und Ängste auf kindgerechte Weise thematisiert finden, wenn die Helden ihrer Kinderbücher sich in ähnlichen Situationen behaupten können.

Das Buch „Reite den Drachen!“ von Christina Hubka und Matthias Geist erzählt einfühlsam die Geschichte von Jan, einem kleinen Jungen, der nur durch Zufall erfährt, dass sein Vater im Gefängnis ist. Er kann mit niemandem darüber reden: Die selbst unter der Situation leidende Mutter kann seine drängenden Fragen nicht beantworten, einen anderen zuverlässigen Vertrauten hat er nicht. Wie sollte sein Vater, den er so sehr vermisst, jemandem weh getan haben? Nachts werden Jans Ängste riesengroß, in seinem Bauch rumort ein Drachen – auf keinen Fall darf der herauskommen! Doch dann entdeckt Jan einen Weg in eine andere Welt: Hier haben alle Menschen einen Drachen und anstatt ihn daran zu hindern, ans Licht zu kommen, haben sie ihn gezähmt. Das Mädchen Fanny hilft Jan dabei, seinen Drachen herauszulassen, sich zu öffnen, Trauer zuzulassen. Jan ist erstaunt, denn nichts Schlimmes passiert. Das Gegenteil ist der Fall, denn der Drache wird sogar zahm und flauschig weich, als Jan zum ersten Mal seit dem Fortgehen des Vaters Tränen zulässt und anderen von seiner Lebensgeschichte erzählt. Jan kann es nun wagen, seinen Drachen zu reiten, so wie die anderen Menschen in der verborgenen Welt. Als er auf diesem Ausritt seine Mutter durch ihr Fenster weinen sieht, fasst er den Entschluss, sofort zu ihr zu gehen. – Er will mit ihr reden, mit ihr weinen. Und endlich können Mutter und Sohn über das Geschehene offen sprechen. Jan wird seinen Vater im Gefängnis besuchen, und bis es soweit ist, darf er ihm einen Brief schreiben. Auch wenn nicht plötzlich alles wieder gut ist, für Jan hat sich etwas Wesentliches geändert: Er ist nicht mehr allein.
Das Buch „Reite den Drachen!“ führt liebevoll und kindgerecht an das Thema „Inhaftierung eines Angehörigen“ heran. Das schreckliche Rumoren im Bauch, die Sprachlosigkeit, die Einsamkeit und Angst, die Kinder in einer solchen Situation empfinden, werden repräsentiert durch einen vermeintlich gefährlichen Drachen. Erst als Jan lernt, ihn ans Licht zu holen, bemerkt er, dass man diesen Drachen zähmen kann. Die Botschaft des Buches ist einfach und klar: Das Verschweigenmüssen und Geheimhalten lässt die Situation des Kindes noch bedrohlicher und undurchsichtiger erscheinen und führt in soziale Isolation, sogar innerhalb der eigenen Familie. Der offene Umgang mit unseren bedrückenden Geheimnissen und die Erkenntnis, dass jeder Mensch „einen Drachen hat“, helfen dabei, das Leben neu zu meistern. Die Autoren bieten in Form von Fragen und Thesen Vorschläge zum Einsatz des Buches an. Im letzten Teil des Buches findet der Leser hilfreiche Kontaktadressen. Ein wirklich wunderbares Kinderbuch, das die Orientierung in der neuen Situation besonders für Kinder im Kindergarten- und frühen Schulalter erleichtert und bei der Bewältigung der möglicherweise großen Umstellung hilft.


In Zusammenarbeit mit inhaftierten Vätern verfasste die Gefängnispsychologin Nicole Borchert das Kinderbuch „Wir treffen uns im Traum – eine Geschichte über Papa im Gefängnis“. Hier geht es sehr konkret um Fragen aus dem Alltag des Kindes, seiner Familie und des inhaftierten Angehörigen.
Die kleine Alessa erfährt, dass ihr Vater ins Gefängnis muss. Im Traum ist sie eine gefangene Prinzessin – ob das Leben im Gefängnis genauso ist? Ihre Mutter erzählt ihr von dem Ort, an dem ihr Vater sein muss, und Alessa möchte alles ganz genau erfahren. Endlich darf sie ihren Vater besuchen, aber der anschließende Abschied fällt ihr sehr schwer. Auch von Fragen nach dem Vater aus dem Umfeld des Kindes und dem befreienden Gefühl darüber reden zu dürfen, berichtet die Geschichte.
Alessas Geschichte spricht bereits Kinder im frühen Kindergartenalter an. Mit klaren Worten werden konkrete Vorstellungen von Gefängnis, Haft und erzwungener Trennung, aber auch von Bewältigung, Wiedersehen und Rückkehr hervorgerufen. Das Buch setzt es sich zum Ziel, die Ansprechbarkeit kindlicher Sorgen und Nöte zum Thema Haft zu erhöhen, und möchte Angehörige von inhaftierten Eltern bei der Begleitung von Kindern in dieser Lebensphase unterstützen. Eine gelungene Geschichte mit schönen kindgerechten Illustrationen von Luisa Puls-Höfer in Zusammenarbeit mit einer Kindertagesstätte.

Das 1979 erstmals in Dänemark veröffentlichte Kinderbuch „Haben Häftlinge Streifen?“ von Ida Koch und Barbara Swartz richtet sich ebenfalls an Kinder im Kindergarten- und frühen Schulalter.
Beim Spiel im Hof verrät der sechsjährige Thomas den anderen Kindern versehentlich ein Geheimnis: Sein Vater ist im Gefängnis. Lena, seine ältere Schwester, ist entsetzt. Nach dem letzten Umzug hatte Mutter ihnen beiden doch ausdrücklich verboten, über die Haft des Vaters zu sprechen! Was, wenn nun wieder alle tuscheln, wenn das Leben wieder so schwer wird, wie vor dem Umzug? Nur mit ihrer Cousine Mona kann Lena offen über ihren Vater sprechen. Ihr Bruder Thomas hat tausend Fragen über das Leben im Gefängnis: Tragen die Gefangenen Handschellen? Haben sie gestreifte Sachen an? Er will unbedingt mitkommen, wenn die Mutter den Vater besucht. Doch der herbeigesehnte Besuch ist ganz anders, als es die Kinder erwartet haben. Beide fühlen sich ängstlich und beklemmt in der undurchschaubaren Welt des Gefängnisses. Vater ist hier nur eine Nummer, Thomas darf ihm sein Geschenk nicht geben und Lena hat all die Sachen vergessen, die sie den Vater eigentlich fragen wollte. Und auch der Abschied fällt schrecklich schwer, warum kann der Vati nicht einfach mitkommen?
Ungeschönt und dennoch sehr einfühlsam erzählt die Geschichte vom veränderten Alltag der Kinder eines inhaftierten Vaters. Dabei werden neben dem Problem der Geheimhaltung auch erzwungene Umzüge, Konflikte zwischen den Eltern und vor allem die als bedrohlich und unnatürlich empfundene Situation während des Besuchs im Gefängnis aufgegriffen.
Aber auch Hoffnungsvolles findet seinen Platz in der kleinen Geschichte: Das vertrauensvolle und wohltuende Gespräch mit einem Freund, der Zusammenhalt der Familie, die Freude beim Wiedersehen und die Hoffnung auf die Zukunft sind Lichtblicke in der Krise, die tief hineingreift in den Alltag aller Beteiligten. Das Buch ermuntert Kinder dazu, ihre eigenen Fragen zu stellen und ein eigenes Verständnis für ihre neue Lebenssituation zu entwickeln. Der Text wird ergänzt durch Erläuterungen zu Strafen und Kriminalität von Karl F. Schumann sowie hilfreiche Buchtipps.

Der von Patricia St. John verfasste Roman „Lucys Entdeckungen“ nähert sich dem Thema von einem religiösen Hintergrund: Die Ge¬schichte der kleinen Lucy, die erst spät erfährt, dass ihr Vater im Gefängnis ist, ist zugleich eine Geschichte der Suche nach dem persönlichen Zugang zu Gott und zum Glauben.
Nach dem frühen Tod ihrer Mutter wächst Lucy bei ihren Großeltern auf. Sie lebt sehr gern bei ihnen, wird geliebt und umsorgt, doch sie spürt, dass beide ein Geheimnis vor ihr haben.
Eines Tages gerät ihre Welt ins Wanken: Ein Brief ihres Vaters trifft ein – aus dem Gefängnis! Seine Entlassung steht bevor und er möchte zukünftig seine Tochter bei sich haben. Lucy ist hin- und hergerissen, denn sie liebt ihre Großeltern sehr, doch auch ihren Vater möchte sie unbedingt sehen und kennen lernen. Sie kann mit niemandem über ihre Sorgen reden, bis sie Donald kennenlernt, einen Jungen aus der Nachbarschaft. Ihm kann sie sich anvertrauen. Lucy hat keine Ruhe mehr, sie will unbedingt ihren Vater im Gefängnis besuchen. Endlich dort angekommen, erfährt sie, dass ihr Vater schon seit zwei Monaten entlassen ist. Lucy fühlt sich zurückgestoßen und verletzt, warum hat er sie noch nicht besucht? Als sie erfährt, wer ihr Vater ist, fühlt sich Lucy überfordert, auch die Ablehnung des Vaters durch die Großeltern kann sie nicht überwinden. Vorerst begleitet sie ihn nur für die Dauer der Ferien nach Spanien. Die glücklichen Tage werden allerdings durch einen Unfall des Vaters abrupt beendet. Lucy kehrt zu ihren Großeltern heim und kurze Zeit später stirbt ihr Vater.
„Lucys Entdeckungen“ richtet sich an Kinder ab zehn Jahren. Der religiöse Hintergrund des Buches tritt im Verlauf der Geschichte deutlich hervor, die Suche des Kindes nach Gott spielt in diesem Roman eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung seiner schwierigen Lebenssituation. Lucys Großvater erklärt seiner Enkelin: Jede Stunde des Lebens, in der wir nicht lieben und vergeben, ist vergeudet. Dieser versöhnlichen Botschaft ist es sicher auch unter anderem zu verdanken, dass „Lucys Entdeckungen“ seit 1979 bereits in der 7. Auflage erschienen ist.

Maja Gerber-Hess ist eine Autorin, die sich besonders um das Aufgreifen schwieriger Themen in Jugendbüchern verdient gemacht hat. Mit „Mama im Knast“ erzählt sie die Geschichte der sechzehnjährigen Elfi, die erleben muss, wie ihre Welt nach dem Selbstmordversuch der Mutter vollkommen aus den Fugen gerät. Im Rückblick erzählt Elfi, wie sich das Leben der Familie in den Monaten vor der Katastrophe bereits verändert hat, der Vater die Arbeit verliert und die Mutter immer mehr unter Druck gerät. Als der Chef der Mutter lebensgefährlich verletzt in seiner Wohnung gefunden wird und ihre Mutter sich das Leben nehmen möchte, vermutet zunächst niemand einen Zusammenhang. Doch als klar wird, dass ihre Mutter für das Verbrechen verantwortlich ist, bricht für Elfi und ihre Familie die Welt zusammen. Freunde wenden sich von ihnen ab, hinter ihrem Rücken werden Gerüchte verbreitet, Zeitungen berichten über sie, Elfis Bruder verliert seinen Job und sogar Verwandte meiden die Familie. Elfi schweigt und wagt es aus Angst vor Verurteilung und Stigmatisierung nicht, sich jemandem anzuvertrauen.
Erst ganz allmählich wachsen Elfi, ihr Bruder und ihr Vater zusammen und lernen, sich gegenseitig beizustehen. Und sie bleiben nicht allein: Von unerwarteter Seite wird ihnen Hilfe angeboten. Da ist die Großmutter, der Schuldirektor, der Junge Stefan und die Freundin Karin, die Beistand und praktische Hilfe geben. Dennoch scheint sich das Leben für Elfi in ein Vorher und ein Nachher zu teilen, die unverbunden nebeneinander stehen. Und obwohl sich das Leben zu Hause wieder in geordneten Bahnen bewegt, lassen sich die Gefühle und Ängste von Elfi und ihrer Familie nicht so leicht ordnen – die Mutter ist verurteilt worden und im Gefängnis, alles hat sich verändert. Elfi und ihre Mutter tauschen die Rollen: Sie ist nun die Stärkere, die für ihre Mutter sorgen muss, dabei wäre sie doch viel lieber die Tochter geblieben. Als der schwerverletzte Chef der Mutter stirbt, müssen Elfi und ihr Bruder lernen damit zu leben, dass ihre Mutter in der Gesellschaft als Mörderin gilt. Die beiden erkennen schnell, dass auch ein Umzug in eine andere Stadt keine dauerhafte Lösung bietet.
Ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Bewältigung ist die Annäherung zwischen Elfi und ihrer Mutter, die nur durch Ehrlichkeit und Zulassen des Schmerzes möglich wird. Hin und wieder gelingt es Elfi mit der Hilfe ihrer Freunde und ihrer Familie bereits, trotz allem wieder ein wenig glücklich zu sein. Die Zukunft ist nicht länger nur bedrohlich und unwägbar, sondern hält auch Hoffnung bereit.
„Mama im Knast“ stellt die Entwicklung einer Jugendlichen in den Vordergrund: Beliebtheit, Aussehen, Erfolg bei Jungs und soziale Zugehörigkeit sind der Rahmen, in dem sich Elfis Gedanken bewegen. Doch ihre Entwicklung wird schwer und bisweilen unmöglich gemacht durch die Situation, in die das Mädchen unverschuldet geraten ist. Sie soll nun plötzlich ein erwachsener Ansprechpartner für Mutter und Vater sein. Erst nach und nach finden alle Beteiligten in ihre Rolle zurück und gelingt es auch der inhaftierten Mutter, wieder eine Mutter für ihre Tochter zu sein.

Nenn mich einfach Super“ von Reinhold Ziegler ist ebenfalls ein Roman für Jugendliche und junge Erwachsene. Ziegler lässt seinen dreizehnjährigen Helden Walter jedoch in einer vollkommen anderen Umgebung agieren. Walters Vater ist wegen Waffenschmuggel inhaftiert. Seine Mutter sucht Zuflucht in Alkohol und ständigen Umzügen. Niemand soll von ihrem Geheimnis erfahren, denn immer stehen am Ende Ablehnung und Isolation. Um den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn zu verdienen, arbeitet die Mutter lange und überlässt den Jungen sich selbst. Immer wieder sagt sie ihm, wie wichtig Geheimhaltung sei. Walter lernt schnell, Kontakte mit anderen Jugendlichen zu vermeiden, unausweichlich folgen sonst Fragen nach seinem Vater und seiner Vergangenheit. Der Besuch beim Vater wirft Walter noch mehr aus der Bahn: Zu bedrohlich ist die Prozedur im Gefängnis, der er sich beim Besuch unterziehen muss, zu bedrückend das veränderte Bild des Vaters. Walter wünscht sich sehnlich, von seinen Erlebnissen im Gefängnis erzählen zu dürfen, doch das mühsam gehütete Geheimnis muss gewahrt werden.
Nach einem Streit mit seiner Mutter reißt Walter aus. Wieder hat sie ihn geschlagen. Erst spät in der Nacht kommt er nach Hause zurück und findet die Polizei bei seiner Mutter. Mit einer ausgedachten Entführungs-geschichte steht er nicht nur bei der Mutter und der Polizei, sondern auch bei Klassenkameraden, Lehrern und Journalisten plötzlich im Vordergrund. Als die Zeitungen dann aber nicht nur die Geschichte seiner angeblichen Entführung, sondern auch die Wahrheit über seinen Vater abdrucken, erkennt Walter, dass er einen Fehler gemacht hat. Und obwohl nun scheinbar der schlimmste Fall eingetreten ist, beginnt hier der Weg Walters aus der Isolation heraus: Das Mädchen Berta sucht weiterhin seine Nähe, mit ihr kann er endlich offen über die Haft seines Vaters sprechen. Auch der Psychologe Uli in der Jugendberatung hilft Walter, seine Gefühle zuzulassen und zu verarbeiten. Nachdem Walter nicht mehr schweigen muss, kann er weitere Freundschaften schließen.
„Nenn mich einfach Super“ thematisiert neben den gravierenden ökonomischen und psychischen Auswirkung-en von Haft auf die Lebensbedingungen einer Familie das Problem befürchteter oder erfahrener gesellschaftlicher Diskriminierung. Doch gerade das Schweigen von Mutter und Sohn führt im Roman beinahe zur Katastrophe. Reinhold Zieglers Jugendroman ist realistisch und spannend. Die Erzählweise reißt mit ihrer Lebendigkeit den Leser mit in die Welt Walters, und bietet viele Identifikationsmomente.

Fazit:
Die hier besprochenen Kinder- und Jugendbücher nähern sich dem gemeinsamen Thema auf unterschiedliche Weise. Während der kleine Jan sich in eine Phantasiewelt zurückzieht, die ihm hilft, seine Trauer zuzulassen und sein Schweigen schließlich zu brechen, befassen sich die Bücher „Wir treffen uns im Traum“ und „Haben Häftlinge Streifen“ altersgemäß mit den ganz konkreten Fragen, die notwendigerweise bei Kindern entstehen, deren Eltern inhaftiert sind.
Die Wahrnehmung und Benennung von Gefühlen wird ebenso thematisiert wie die Frage nach den konkreten Bedingungen der Haft und Kontaktmöglichkeiten. Welcher Zugang im Einzelfall besonders geeignet ist, entscheidet sich hier an den individuellen Voraussetzungen der betroffenen Kinder.
In den hier besprochenen Jugendbüchern wird auch das Verstummen der Angehörigen thematisiert und problematisiert. Dem Roman „Lucys Entdeckungen“ ist sein frühes Erscheinungsjahr bereits stark anzumerken. Vieles erscheint vielleicht Kindern und Jugendlichen altmodisch und überholt. Wird jedoch ein religiöser Zugang als sinnvoll angesehen, bietet das liebevoll geschriebene Buch viele interessante und lohnende Ansätze.
Walter („Nenn mich einfach Super“) lebt in einer Welt von Gewalt, Alkoholmissbrauch, Ablehnung und fehlen-den Kontinuitäten. Dennoch erzählt Reinhold Ziegler die eigentlich traurige und dramatische Geschichte mit viel Humor und Einfühlungsvermögen, so dass dem Leser zugleich mit Walter doch hin und wieder ein Lächeln auf die Lippen gerät. Vielleicht ist dieser Roman der Realität vieler hilfsbedürftiger Kinder am nächsten.
Gemeinsam ist allen Büchern ihr lebensbejahendes Ende. Dabei ist es nicht erheblich, ob tatsächlich die Entlassung des Inhaftierten ein hoffnungsvolles Signal setzt. Es geht vielmehr darum, das Schweigen der Beteiligten zu durchbrechen und wieder Nähe und Geborgenheit empfinden und zulassen zu können.
Die Rezension von Kerstin Wehlmann (Wiss. Mitarb. an der TU-Darmstadt
Doktorandin an der Universität Osnabrück) erschien 2011 in unserem BAG-S Informationsdienst Straffälligenhilfe Heft 2/2011 (S. 15 - 19)

Neuerscheinung 2014:

Rosie und Moussa - Der Brief von Papa

Das in diesem Jahr erschienene Buch „Rosie und Moussa – Der Brief von Papa“ (März 2014) wurde von Michael De Cock verfasst und von Judith Vanistendael mit lebhaften Illustrationen untermalt. Sie erzählen die Geschichte von der jungen Rosie, die endlich erfährt, warum ihr Vater sie vor einigen Monaten ohne ein Wort verlassen hat. Das Buch reiht sich zwischen die Bände „Rosie und Moussa“ (November 2013) und „Rosie und Moussa – Beste Freunde für immer“ (Juli 2014) ein.
Rosie kann mit ihrer Mutter über alles reden – außer über ihren Vater. Denn von dem möchte sie nichts mehr hören, seit er die beiden verlassen hat und lässt Rosie in dem Glauben, dass er in irgendein fernes Land gegangen sei. Rosie versteht nicht, warum er sich damals nicht wenigstens verabschiedet hat, bis sie eines Tages am Telefon sofort die Stimme ihres Vaters erkennt. Sie erfährt, dass er all die Zeit ganz in ihrer Nähe war, sie aber leider nicht besuchen kann, - denn er ist im Gefängnis. Er verspricht ihr einen Brief zu schreiben und Rosie gibt ihm den Namen ihres Nachbarn und gleichzeitig besten Freundes Moussa, damit ihre Mutter nichts von dem Brief mitbekommt. Auch das Telefonat hält sie auf Wunsch ihres Vaters geheim, außerdem weiß sie nun, dass ihre Mutter sie die ganze Zeit angelogen hat. Stattdessen berichtet sie die Neuigkeit sofort ihrem besten Freund Moussa. Natürlich stellen sich die beiden auch die Frage, was ihr Vater Schlimmes verbrochen haben könnte und Rosie ist sich nicht sicher, ob sie das überhaupt wissen will. Kurze Zeit später kommt der langersehnte Brief:

„Liebe Rosie,
hier ist er endlich. Der Brief, auf den du so lang gewartet hast. Wir haben uns so viel zu erzählen und so viel zu fragen. Ich hätte dir natürlich viel eher schreiben müssen, aber ich habe immer einen Grund gefunden, es nicht zu tun. Und wenn alle Gründe alle waren, dann ließen sich nirgendwo die richtigen Worte finden, um einen Brief anzufangen.
[…]
Ich weiß nicht, ob Mama manchmal von mir erzählt. Aber vielleicht ist es Zeit, dass ich dir selbst erkläre, was alles geschehen ist. Möchtest du nicht mal hierherkommen? Das würde mich so sehr freuen. Wenn du Lust hast, mich zu besuchen, dann lasse ich Onkel Joris alles Nötige regeln.
Meine Tür steht dir immer offen, wie wir hier manchmal scherzhaft zueinander sagen. Oder: Schau ruhig vorbei, wir sind immer zu Hause.
Tschüs, Roos
dein Papa.“


Rosie verabredet sich mit ihrem Onkel, um ihren Vater im Gefängnis zu besuchen, während ihre Mutter nichts davon ahnt. Rosie wird von Moussa begleitet, der sie davon überzeugt, dass sie keine Fahrscheine für die Straßenbahn zum Gefängnis bräuchten. Als plötzlich ein Kontrolleur vor ihnen steht, wird Rosie bewusst, dass sie nun auch etwas Falsches getan hat. Der Kontrolleur drückt ein Auge zu und nach weiteren Besucherkontrollen im Gefängnis, darf sie nun endlich ihren Vater sehen. Auch wenn sie gar nicht so richtig weiß, womit sie überhaupt anfangen soll, ist sie überglücklich ihren Vater nach so langer Zeit wiederzusehen. Er erzählt ihr, dass er wegen Autoschieberei im Gefängnis sitzt und sie reden über alles, was ihnen in der kurzen Besuchszeit möglich ist. Zum Abschied gibt er ihr eine Kette, die ihre Mutter ihm einmal geschenkt hatte. Als diese später die Kette entdeckt und somit erfährt, dass Rosie bei ihrem Vater war, werfen sie sich gegenseitig ihre Lügen vor. Schließlich sehen beide ihre Fehler ein und beschließen ab nun immer ehrlich zueinander zu sein. Auch wenn Rosie jetzt sicher weiß, dass ihr Eltern sich nicht mehr vertragen werden, war dieses Gespräch schon lange überfällig und zeigt, dass Schweigen alles nur noch schwieriger macht.

Das Buch veranschaulicht gut die Gedankengänge der jungen Rosie, als sie erfährt, dass ihr Vater im Gefängnis ist und zeigt realistisch, welche Auswirkungen das auf sie und vor allem auf ihre Mutter hat. Der Leser kann nachvollziehen, was in ihr vorgeht und welche Fragen sie sich stellt. Warum hat er sich nicht von mir verabschiedet? Warum spricht Mama nie über ihn? Warum sitzt er im Gefängnis? Und will ich überhaupt wissen was er getan hat? Werden Mama und Papa je wieder zusammen kommen? Als Rosie ihren Vater schließlich im Gefängnis besucht, werden ihre Fragen beantwortet und es wird deutlich, dass Reden auch in diesem Fall die beste Lösung ist. Man merkt, dass Rosie sich nicht dabei wohlfühlt, ihrer Mutter das Telefonat zu verschweigen. Erst als am Schluss die Wahrheit ans Licht kommt, können beide gemeinsam an einem Weg arbeiten.

Rezension von Nora Pietrass (Praktikantin der BAG-S)

Literatur:

Borchert, Nicole: Wir treffen uns im Traum. Eine Geschichte über Papa im Gefängnis, JVA Waldheim, Leipzig 2008. www.gitterladen.de

De Cock, Michael/ Vanistendael Judith:  Rosie und Moussa. Der Brief von Papa. Beltz & Geberg, Weinheim/ Basel 2014
ISBN 978-3-407-82045-7

Gerber-Hess, Maja: Mama im Knast, Rex-Verlag, Stuttgart 1996. ISBN 3-7252-0644-9
Hubka, Christine; Geist, Matthias: Reite den Drachen, Verlag Der Apfel, Wien 2010. ISBN 978-3-85450-263-0

Koch, Ida; Swartz, Barbara: Haben Häftlinge Streifen? Verlag Chance e. V. Münster 2000. www.chance-muenster.de

St. John, Patricia: Lucys Entdeckungen, Verlag Bibellesebund, Marienheide/ Winterthur 2009 (7. Auflage).
ISBN 978-3-87982-553-0

Ziegler, Reinhold: Nenn mich einfach Super, Beltz & Gelberg, Weinheim Basel 1990.
ISBN 3-407-78714-6