Das Gefängnis als Auslaufmodell

Im Interview spricht Thomas Galli, Leiter der JVA Zeithain, über den Sinn und Unsinn des Wegsperrens und sein Buch "Die Schwere der Schuld". Das Interview führte Diana K. Weilandt, die zusammen mit dem Rechtsanwalt Sebastian Kiefel auf youtube auch einen Film mit dem Interview zum Buch veröffentlicht hat (weilandt.kiefel produktionen).


Um was geht es in Ihrem Buch „Die Schwere der Schuld – Ein Gefängnisdirektor erzählt“?


Die Erzählungen in dem Buch handeln davon, wie Menschen zu Straftätern geworden sind, welche Straftaten sie begangen haben, wie sie in der Haft leben und wie der Staat mit der Institution „Gefängnis“ versucht, auf sie einzuwirken, um künftige Straftaten zu reduzieren und Schuld zu vergelten.

Was wollen Sie mit dem Buch erreichen, und wen wollen Sie damit vor allem ansprechen?

Es ist kein richtiggehendes Fachbuch, schon gar kein juristisches Fachbuch. In erster Linie soll es interessant und spannend sein. Die Welt hinter Gittern ist ja eine sehr besondere Welt, gerade wenn Sie an Hochsicherheitsanstalten wie die JVA Straubing denken, in denen hunderte von Menschen über Jahrzehnte auf engstem Raum eingesperrt sind. Und natürlich habe ich in 15 Jahren Strafvollzug viel mitbekommen, wie zum Beispiel einen Mord in der Russenmafia, und viele Gefangene, die zum Teil schlimmste Straftaten begangen haben, intensiv kennen gelernt. Einige Persönlichkeiten, Schicksale und Vorkommnisse haben mich besonders berührt und werden in dem Buch verarbeitet. Auf einer tieferen Ebene soll das Buch aber auch zum Nachdenken anregen. Ist es wirklich sinnvoll, Menschen zur Strafe einzusperren? Was erreichen wir damit? Soll das noch zeitgemäß sein? Wollen wir ernsthaft behaupten, jemanden in die Gesellschaft integrieren zu können, indem wir ihn Jahre oder Jahrzehnte wegsperren? Ist es wirklich angemessen, von Schuld zu sprechen, wenn jemand, der von frühester Kindheit an mit Problemen zu kämpfen hatte, von denen die Mehrheit unserer Gesellschaft verschont bleibt, irgendwann selbst auf die „schiefe Bahn“ gerät und straffällig wird?

Wie stehen Sie persönlich zu diesen Fragen?

Meine ganz persönliche und sozusagen private Meinung ist, dass das Gefängnis in seiner jetzigen Form und Ausgestaltung ein überholtes Prinzip ist. Letztlich soll das Buch auch zeigen, dass die Vorstellungen, die Öffentlichkeit und Medien von der Institution „Gefängnis“ und ihren Möglichkeiten haben, vielfach unrealistisch sind. Die Erwartungen, die an den Strafvollzug in seiner jetzigen Form geknüpft sind, werden faktisch nicht nur nicht erfüllt, sondern sind überhaupt nicht erfüllbar. Selbstverständlich war und ist das Gefängnis ein erheblicher Fortschritt gegenüber Blutrache, Todesstrafe und anderen Dingen, die es ja in manchen Teilen der Welt leider immer noch gibt, aber nach inzwischen einigen Jahrzehnten Erfahrung mit dem rechtsstaatlichen Strafvollzug sind die (vergleichsweise wenigen) Erkenntnisse, die man über den Beitrag des Strafvollzuges in Gefängnissen zur Reduzierung von Kriminalität gewonnen hat, doch mehr als ernüchternd. Und wenn man dann sieht, welchen Schaden der Freiheitsentzug bei vielen Gefangenen anrichtet, und man mitbekommt, wie zum Beispiel inhaftierte Väter von ihren kleinen Kindern wenige Stunden im Monat, zum Teil nur hinter der Trennscheibe, besucht werden dürfen und man dabei genau weiß, dass diese Kinder weit häufiger als der Durchschnitt irgendwann selbst im Knast landen werden, dann fragt man sich schon: Gibt es in unserer aufgeklärten Moderne keine sinnvolleren und humaneren Möglichkeiten der staatlichen Intervention? Der Strafvollzug kostet zudem jedes Jahr viele Milliarden Euro, auch das darf nicht vergessen werden. Die sozialen Folgekosten, die mit alternativen staatlichen Interventionen wohl reduziert werden könnten, sind da noch gar nicht eingerechnet.

Aber eine drohende Gefängnisstrafe wirkt doch abschreckend, und die Allgemeinheit ist doch zumindest vor den Gefangenen sicher? Und außerdem: Die Opfer von Straftaten, und auch die Allgemeinheit, verlangen doch Genugtuung, und haben sie nicht auch ein Recht darauf, dass derjenige bestraft wird, der einem anderen einen Schaden zugefügt hat?

Abschreckung macht bis zu einem gewissen Grad Sinn, ja. Bei schweren Gewalt- oder Sexualstraftaten, die ja meist sehr stark affektiv bestimmt sind, spielt sie aber kaum eine Rolle. Und manchem Geschädigten, übrigens bei Weitem nicht jedem, geht es etwas besser, wenn dem Schädiger auch ein Leid zugefügt wird. Das alles kann, in einem bestimmten Umfang, staatliche Strafen rechtfertigen, die aber nicht notwendigerweise im Entzug der Freiheit bestehen müssen. Ich denke, für die Geschädigten und auch zur Festigung des Rechtsbewusstseins der Allgemeinheit ist vor allem wichtig, dass in einem öffentlichen Verfahren festgestellt wird, was Recht und was Unrecht ist. Und zum Punkt der Sicherheit: Natürlich ist die Allgemeinheit weitgehend geschützt, solange jemand eingesperrt ist. Aber die weitaus meisten Gefangenen sind keine Mörder oder Vergewaltiger. Außerdem wird so gut wie jeder Gefangene irgendwann wieder entlassen. Und was hat die Allgemeinheit davon, fünf, zehn oder 15 Jahre vor jemandem in Sicherheit zu sein, der dann in Freiheit kommt und gefährlicher ist als zuvor, da er durch die Haft noch weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden ist?

Aber es wird doch im Gefängnis alles unternommen, die Gefangenen so zu behandeln und zu therapieren, dass sie weniger gefährlich werden? Oder finden Sie, dass im Strafvollzug schlechte Arbeit geleistet wird?

Ganz im Gegenteil, im Strafvollzug wird zum größten Teil hervorragende Arbeit geleistet! Wenn man die Arbeit ernst nimmt, und die meisten tun das, gehört die Tätigkeit im Gefängnis, egal in welcher Funktion, zu den schwierigsten Arbeiten überhaupt. Es sind im Vollzug viele unglaublich engagierte und kompetente Leute tätig. Umso mehr ist es nach wie vor ein großer Skandal, wie wenig gesellschaftliche Anerkennung Bedienstete im Strafvollzug genießen. Es geht ja auch gerade darum, zu zeigen, wie systematisch die Überforderung der Tätigkeit im Gefängnis ist, mit zum Teil unerfüllbaren Erwartungen, unauflösbaren Dilemmata zwischen Sicherheit und Resozialisierung sowie fehlendem Rückhalt durch die Gesellschaft, der sich in knappem Personal und oft nicht leistungs- und verantwortungsgerechter Bezahlung niederschlägt. Die unglaublich hohen Krankentage der Vollzugsbediensteten sprechen da eine deutliche Sprache. Es geht also auf keinen Fall darum, Gefängnisbedienstete zu kritisieren, sondern darum, das Gefängnis als soziale Institution auf den Prüfstand zu stellen, denn seine Funktion, Menschen weniger gefährlich zu machen, kann es eben auch bei noch so großen Bemühungen des Personals kaum erfüllen. Unabhängig davon, in welche Richtung sich der Umgang mit Straffälligen entwickeln wird, die Mitarbeiter im Vollzug müssen nach meiner Überzeugung ganz wesentlich mit eingebunden werden und bleiben. Sie sind es schließlich, die die straffällig Gewordenen am besten kennen.

Sie sprechen das Thema Bedienstete an. Sie sind ja auch Bediensteter des Strafvollzuges. Sehen Sie da keinen Rollenkonflikt, wenn Sie diesen Strafvollzug, für den Sie ja schließlich auch bezahlt werden, ein Stück weit in Frage stellen?


Wir werden ja vom Bürger, vom Steuerzahler bezahlt. Und da ist es gerade unsere Pflicht, uns Gedanken darüber zu machen, wie wir mit dem Thema Kriminalität möglichst sinnvoll und gesellschaftsdienlich umgehen können. Und die damit zusammenhängenden Fragen müssen möglichst breit und auch öffentlich diskutiert werden, denn der Strafvollzug ist keine in sich geschlossene Gesellschaft, sondern eben, auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen, Teil der ganzen Gesellschaft. Dass ich bei meiner Tätigkeit für den Vollzug Recht und Gesetz einhalte, ist ohnehin selbstverständlich. Es ist ja eine grundlegende gesellschaftstheoretische und zunächst eher philosophische Frage, in welche Richtung sich unser Umgang mit Straffälligkeit entwickeln sollte. Eine humane Behandlung von Straffälligen beziehungsweise Straffälligkeit und eine Reduzierung der Kriminalität sind für mich jedenfalls kein Widerspruch, sondern bedingen einander.

Aber was wären denn aus Ihrer Sicht die Alternativen zur Freiheitsstrafe?

Die Frage ist nachvollziehbar, aber es geht vor allem erst einmal darum, zur Lösung gesellschaftlicher Probleme und Konflikte nicht zu sehr auf Strafen, in welcher Form auch immer, fixiert zu sein. Wir müssen sozusagen erst einmal auf einer gesellschaftlichen Ebene das Gefängnis im Kopf aufbrechen, dann wird der Blick frei für sinnvollere und auch notwendige Wege im Umgang mit Kriminalität. Grundsätzlich denke ich, dass wir derzeit das Konzept und den Begriff der „Schuld“ ungerecht und auch nicht gesamtgesellschaftlich förderlich verwenden. Wir müssen in der Kriminalitätsprävention viel langfristiger und komplexer denken und handeln, anstatt Einzelnen die Schuld für ihr Fehlverhalten zuzuweisen, sie zu bestrafen und dabei soziale Ursachen weitgehend auszuklammern. Es geht wohlgemerkt überhaupt nicht darum, Verständnis für Straftaten zu haben, sondern im Gegenteil eben darum zu überlegen, wie man sie reduzieren kann. Und wäre es nicht sinnvoller, sich jetzt zum Beispiel mehr um Kinder und Jugendliche mit Problemen zu kümmern, als sie in zehn oder 15 Jahren einzusperren, wenn sie dann straffällig werden? Aber das sind alles Fragen, die für dieses Buch nur im Hintergrund eine Rolle spielen. Da wiederhole ich mich gerne: In erster Linie soll das Buch spannend, interessant und informativ sein. Das Gefängnis und seine freiwilligen und unfreiwilligen Protagonisten sind nicht wie sie scheinen.

Weitere Informationen:
 www.thomas-galli.de

Das Interview finden Sie auch in der nächsten Ausgabe unserer Fachzeitschrift Informationsdienst Straffälligenhile 1/2016, die in Kürze erscheint.