AWO: Leitlinien der Straffälligenhilfe

Die Geschäftsführerkonferenz der Arbeiterwohlfahrt hat am 5. Dezember 2013 Leitlinien für die fachliche Arbeit der Straffälligenhilfe verabschiedet. Die Arbeiterwohlfahrt stellt dort die Wertschätzung, Selbstbestimmung und die persönlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Hilfesuchenden in den Vordergrund ihres Handelns und versteht Straffälligkeit insgesamt als Ausdruck einer Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Bedingungen, individuellen Voraussetzungen und sozialen Einflüssen:

 

Die Straffälligenhilfe der Arbeiterwohlfahrt
Leitlinien der fachlichen Arbeit

Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) ist ein Wohlfahrtsverband in dem sich Menschen zusammengeschlossen haben, um bei der Bewältigung sozialer Probleme und Aufgaben mitzuwirken und um einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat zu  verwirklichen.
Der Spannungsbogen von Hilfen wird in den letzten Jahren generell unter wirtschaftlichen Aspekten neu bewertet. Einsparungen insbesondere im sozialen Bereich gehen nicht selten zu Lasten der Menschen, deren wirtschaftliche Lage und persönliche Voraussetzung eher gestärkt werden müsste.
Die AWO wirkt aktiv darauf hin, dass soziale Gerechtigkeit und Solidarität Kernpunkte sozialen Handelns bleiben.
Damit stellt sich die AWO dieser besonderen sozialpolitischen Aufgabe und Herausforderung, indem sie sich mit ihren demokratischen Strukturen als unverwechselbare, wertgebundene Anbieterin kompetenter sozialer und fachlicher Dienstleistungen profiliert.
Auf der Sonderkonferenz der AWO im November 1998 wurden das Leitbild und die Leitsätze der Arbeiterwohlfahrt verabschiedet.
Sie dienen der Orientierung für die haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitenden und Mitglieder, sie sind die Grundlage für fachpolitische Außendarstellungen.
Die Leitsätze der AWO sind die Basis für die vorliegenden Leitlinien und bilden mit dem AWO Qualitätsmanagementkonzept die Grundlage der Arbeit in der Straffälligenhilfe.
Die Leitlinien der AWO Straffälligenhilfe wurden am 05. Dezember 2013 von der Geschäftsführerkonferenz verabschiedet und als Grundlage für das Leitbild in den Einrichtungen empfohlen.

1. Wir bestimmen – vor unserem geschichtlichen Hintergrund als Teil der Arbeiterbewegung – unser Handeln durch die Werte des freiheitlichdemokratischen Sozialismus: Solidarität, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit.
Unser humanistisches Menschenbild stellt die Wertschätzung, Selbstbestimmung und die persönlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Hilfesuchenden in den Vordergrund all unseres Handelns.
Wir verstehen Straffälligkeit als Ausdruck einer Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Bedingungen, individuellen Voraussetzungen und sozialen Einflüssen. Wir orientieren uns in unserer Arbeit an den Bedürfnissen der Hilfesuchenden, indem wir gemeinsam mit den Betroffenen individuelle Hilfsangebote unter Nutzung der vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen entwickeln.
In unserer Arbeit berücksichtigen wir genderspezifische Unterschiede (z.B: Frauen verüben weniger Straftaten und „leichtere“ Delikte, sind mit 5% in der Haft unterrepräsentiert, häufig betroffen von –sexualisierter- Gewalt) und überprüfen kontinuierlich die Passgenauigkeit und Qualität der Leistung. Straffällig gewordene Frauen brauchen eigenständige, frauenspezifische Hilfeangebote, die auf ihre spezifischen Erfordernisse zugeschnitten sind und psychosoziale Hilfen mit existenzsichernden Maßnahmen verknüpfen.
Die Straffälligenhilfe stellt die Menschen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Gerechtigkeit bedeutet für uns, Menschen in ihrer Individualität wertfrei anzunehmen und Vorgänge in einen gesamtgesellschaftlichen Bezug zu stellen.
Auch Kinder und Lebenspartner/innen sind spätestens bei einer Inhaftierung mittelbar/ unmittelbar betroffen. Insbesondere die Trennung von Kindern zu (alleinerziehenden) Elternteilen hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben von scheinbar Unbeteiligten.
Die AWO setzt sich auch hier für eine Verbesserung der Situation der Betroffenen ein.
Insbesondere der Wert der Freiheit kann durch das Hauptziel unserer Arbeit in der Straffälligenhilfe, der Haftvermeidung und Haftreduzierung, direkte Umsetzung erfahren.
Wir unterstützen und respektieren die Freiheit der Einzelnen in der Auswahl und in der Annahme unserer Hilfeangebote. Eigenverantwortliches Handeln (wieder) erlernen, unter optimaler Nutzung der vorhandenen Fähigkeiten, wird durch zielgerichtete Beratung und Unterstützung verstärkt und gefördert.
Die AWO arbeitet darauf hin, ein Netz ambulanter Alternativen zu Freiheit entziehender Sanktionen zu schaffen. Die Resozialisierung und Eingliederung hat äußerste Priorität.
Akzeptierende soziale Arbeit berücksichtigt die Unterschiedlichkeit sozialen Verhaltens auf der Grundlage verschiedener gesellschaftlicher, kultureller und persönlicher Hintergründe.
Abweichenden Rahmenbedingungen dieser Werte begegnen wir mit angemessener sozialpolitischer Einflussnahme auf allen nötigen Ebenen.

2. Wir sind ein Mitgliederverband, der für eine sozial gerechte Gesellschaft kämpft und politisch Einfluss nimmt. Dieses Ziel verfolgen wir mit ehrenamtlichem Engagement und professionellen Dienstleistungen.
Die Gleichstellung der Geschlechter auf allen gesellschaftlichen Ebenen ist auch in der Gesetzgebung, in Verordnungen und Ausführungsvorschriften zu implementieren und auf deren Umsetzung zu drängen (Gender Mainstreaming).
Die AWO fordert hierzu die Politik auf, Menschen aus Vollzugsanstalten zu entlassen, die ambulant effektiver resozialisiert werden können.
Sie fordert bei straffälligen Frauen und Männern kriminologische Erkenntnisse über Gefährlichkeitsprognosen zu berücksichtigen und Angebote von alternativen Sanktionen zur Freiheitsstrafe zu nutzen.
Die AWO unterstützt und fördert den Selbsthilfegedanken und die Selbsthilfeinitiativen. Sie versteht sich als sozialpolitische Interessensvertretung für Menschen, die ihre besondere soziale Lebenssituation allein nicht umfänglich darlegen und die sich hieraus ergebenden Anliegen nicht in ausreichendem Umfang durchsetzen können.
Wir setzen uns für ein kooperatives Zusammenwirken von Professionellen und Vertretungen der Betroffenen ein. Die Freie Straffälligenhilfe ist auf ehrenamtliches bürgerschaftliches Engagement angewiesen und arbeitet mit allen Initiativen, die Menschen- und Bürgerrechte respektieren, kooperativ zusammen.

3. Wir fördern demokratisches und soziales Denken und Handeln. Wir haben gesellschaftliche Visionen.
Demokratische Strukturen sowohl für Klienten/innen als auch für Mitarbeitende unterstützen das Ziel, die größtmögliche Autonomie und Selbstbestimmung für die Einzelnen herzustellen und schaffen Spielräume für innovative Ansätze.
Durch die Mitwirkung möglichst vieler Interessensgruppen wird eine größtmögliche Akzeptanz für straffällige Menschen in der Gesellschaft gefördert. Wir setzen uns im Interesse der Hilfesuchenden auf der politischen Ebene dafür ein, dass Armut und soziale Ausgrenzung vermieden bzw. ihr entgegengewirkt wird.

4. Wir unterstützen Menschen, ihr Leben eigenständig und verantwortlich zu gestalten und fördern alternative Lebenskonzepte.
Die Angebote der Freien Straffälligenhilfe der AWO orientieren sich an den Bedürfnissen der Betroffenen und werden fortlaufend und flexibel unter Wahrung der gesetzlichen Vorgaben und Bestimmungen an sich verändernde Bedarfslagen angepasst.
Die individuelle Beratung bezieht den gesellschaftlichen und sozialen Kontext mit ein. Das eigenverantwortliche Handeln unter optimalem Nutzen von vorhandenen Fähigkeiten wird durch professionelle Beratung und Unterstützung verstärkt und gefördert.
Die Straffälligenhilfe arbeitet nach dem Prinzip der Freiwilligkeit. Sie übernimmt prinzipiell keine Kontroll- und Ermittlungsaufgaben und keine Berichtspflichten gegenüber der Justiz. Die Beratung beschränkt sich nicht auf einzelne Bereiche des Lebens der Klienten/-innen, sondern strebt Veränderungen, Lern- und Entwicklungsprozesse in allen Bereichen, mit allen betroffenen Personen an.
Die Methodenvielfalt in der Ausgestaltung der pädagogischen Arbeit berücksichtigt die individuellen Verläufe und Hintergründe von straffällig gewordenen Menschen.
Ziel ist es, die Eigeninitiative nach dem Grundsatz „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu fördern, damit persönliche Lebenskonzepte und Lebensmodelle von den Betroffenen gefunden und realisiert werden können.
Diese ganzheitliche und lösungsorientierte Sichtweise schafft die Basis für unsere Fachlichkeit.

5. Wir praktizieren Solidarität und stärken die Verantwortung der Menschen für die Gemeinschaft.
Solidarität und Verantwortung finden ihren Ausdruck in einem differenzierten Hilfeangebot, das allen Interessierten und Betroffenen zugänglich ist.
Dazu gehört die Schaffung oder der Erhalt von niedrigschwelligen Zugangsbedingungen sowie differenzierten Angeboten, die den jeweiligen Hilfebedarfen gerecht werden. Wir stellen Rahmenbedingungen zur Verfügung, die es Menschen ermöglichen, unabhängig von Kultur, Geschlecht und Alter, physischen und/oder psychischen Unterschieden, ihre Lebensmodelle einzubringen.
Unser Ziel im Sinne von Diversity Management ist es, soziale Diskriminierung zu verhindern und die Chancengleichheit für alle Menschen unabhängig ihrer Lebensmodelle und Leistungspotentiale herzustellen bzw. zu erhalten.
Im Bereich der Straffälligenhilfe sind genderspezifische Analysen und deren Ergebnisse in die Praxis zu überführen.
Als Unterstützung für Frauen, die als weibliche Straftäterinnen besonderer gesellschaftlicher
Ächtung ausgesetzt sind, engagieren wir uns in der Öffentlichkeit mit gezielten Informationen gegen die Diskriminierung von (straffälligen) Frauen.
Wir begegnen patriarchalen Machtstrukturen und Ungleichbehandlungen mit Parteilichkeit und solidarisieren uns mit Frauen unabhängig von sozialer Herkunft, kulturellem Hintergrund und ökonomischen Verhältnissen.

6. Wir bieten soziale Dienstleistungen mit hoher Qualität für alle an.
Die Angebote sind bedarfsgerecht und orientieren sich an den jeweiligen regionalen Bedingungen. Mit der Weiterentwicklung standardisierter sozialer Hilfen und mit regelmäßigen internen und externen Qualitätskontrollen soll die hohe Qualität der sozialen Dienstleistung erhalten, dargelegt und ausgebaut werden.
Die regionale Vernetzung mit anderen sozialen Diensten ist integraler Bestandteil unsere Arbeit. Durch Kooperationen mit anderen Diensten und Angeboten (z.B. Suchthilfe, Wohnungslosenhilfe, Schuldnerberatung, sozialpsychiatrischen Diensten) unterstützen wir die Hilfesuchenden bei einer individuellen und selbständigen Lebensgestaltung.
Die fachliche Qualifikation und persönliche Entwicklung der Mitarbeitenden wird durch ständige Fort- und Weiterbildungen sowie Supervision ausgebaut. Auf dieser Basis entsteht die professionelle Haltung und Voraussetzung für die tägliche Arbeit.

7. Wir handeln in sozialer, wirtschaftlicher, ökologischer und internationaler Verantwortung und setzen uns nachhaltig für einen sorgsamen Umgang mit vorhandenen Ressourcen ein.
Die Einrichtungen und Dienste der AWO arbeiten nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen. Dabei legen Sie hohen Wert auf einen verantwortungsvollen Umgang mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen, auf eine kontinuierliche Minimierung von Verbräuchen sowie auf eine größtmögliche Vermeidung von negativen Umwelteinflüssen (z. B. Treibhausgasemissionen).
Die Betriebswirtschaft hat in diesem Prozess eine dienende Funktion. Umweltbewusstes und wirtschaftliches Handeln stehen keinesfalls im Gegensatz, sondern dienen gemeinschaftlich der Kostenreduzierung, der Minimierung von betriebswirtschaftlichen Risiken und dem Erhalt der Ökosysteme für künftige Generationen.
Durch ein sozial, wirtschaftlich und ökologisch verantwortungsvolles Handeln nehmen wir eine Vorbildfunktion ein und fördern ein entsprechendes Verhalten bei unseren Klienten, Mitarbeitenden sowie Kooperations- und Geschäftspartnern.
Wirtschaftliches Handeln ist Teil unserer sozialen Verantwortung für die Hilfesuchenden, unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie unserer Kooperationspartner.
In der Umsetzung gesetzlicher Bestimmungen wird in der Freien Straffälligenhilfe die Orientierung am vorhandenen Bedarf und die verbindliche Vernetzung der unterschiedlichen Hilfeangebote angestrebt.

8. Wir wahren die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit unseres Verbandes; wir gewährleisten Transparenz und Kontrolle unserer Arbeit.
Unsere Einrichtungen der Freien Straffälligenhilfe arbeiten auf der Grundlage von qualifizierten Konzepten und richtungsweisenden Leitbildern, in denen der Mensch im Mittelpunkt steht. Leistungs- und Qualitätsbeschreibungen dienen der Kontinuität und Nachvollziehbarkeit der angebotenen und erbrachten Arbeit. Regelmäßige Rechenschaftsberichte erhöhen die Transparenz nach außen.
Die Verantwortung der öffentlichen Hand für die Grundsicherung der Hilfesuchenden bleibt ungeachtet der sozialen Verantwortung zur Entwicklung von fachgerechten Angeboten weiterhin bestehen.

9. Wir sind fachlich kompetent, innovativ, verlässlich und sichern dies durch unsere ehren- und hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Eine besondere Stärke unserer Angebote liegt in der Vernetzung von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der AWO. Zum Ausbau und Erhalt der notwendigen Fähigkeiten und Kenntnissen werden Fortbildungs- und Supervisionsangebote vorgehalten. Ehrenamtlich Mitarbeitende erhalten bei Bedarf zusätzliche Begleitung und Beratung. Der intensive Austausch zwischen Profession und Ehrenamt schafft ein konstruktives, kooperatives und sich ergänzendes Miteinander zu Gunsten der Zielgruppe.
Unsere Hilfestandards orientieren sich am Stand aktueller fachlicher und wissenschaftlicher Erkenntnis."

Die Leitlinien können Sie hier als pdf herunterladen.


Die vorliegenden aktualisierten Leitlinien wurden durch Hedi Boss und Birgit
Münchow erstellt und im September 2013 durch den Arbeitskreis Schuldnerberatung,
Straffälligenhilfe, Suchthilfe, Wohnungslosenhilfe der AWO Geschäftsführerkonferenz
verabschiedet.
Herausgeber: AWO Bundesverband e.V.
Verantwortlich: Wolfgang Stadler, Vorstandsvorsitzender
Redaktion: Hedi Boss, Birgit Münchow
© AWO Bundesverband e.V.
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Tel.: 030/26309-0; Fax: 030/26309-32599
Email: straffaelligenhilfe(at)awo.org
www.awo.org
Neuauflage Januar 2014 mit Änderungen und Ergänzungen
Abdruck, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Herausgeberin.
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