Ungerechtes deutsches Tagessatz-Strafsystem

Damit befasst sich die Einleitung zum englischsprachigen Buch „The Limits of Fairer Fines: Lessons From Germany“ (Nagrecha), das im Juni 2020 erschienen ist. Die Harvard Law School führte in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kriminologie der Universität Köln von 2018 bis 2019 Interviews mit 50 Richter*innen und Staatsanwält*innen in Deutschland durch, um zu erfahren „wie das deutsche Tagessatz-System in der Praxis funktioniert“.

Ein weiterführender Bericht des Criminal Justice Policy Program (CJPP 2020) analysierte anschließend, „ob derartige Tagesgeldstrafen ihr Ziel – nämlich die Fairness von Geldstrafen zu erhöhen" erreichen. Es wurden „schwerwiegende Probleme mit dem deutschen Tagessatzsystem“ festgestellt.

Die uneinheitliche Vorgehensweise bei der Berechnung der Geldstrafen führte dazu, dass die „Tagessätze nicht zu Gleichheit und Fairness beitragen“. Als Grundlage der Berechnung wurde das tägliche Nettoeinkommen einer Person herangezogen. Dabei seien die Abzüge jedoch nicht ausreichend gewesen, weil die grundlegenden Lebenshaltungskosten nicht einberechnet wurden.

„Kurzum: Der Tagessatz in Deutschland spiegelt die finanzielle Realität der betroffenen Menschen nicht vollständig wider.“

Auch in guten Fällen waren die Geldbußen unverhältnismäßig hoch. Viele Menschen seien nicht in der Lage, ihre Strafe zu zahlen. Eine Gleichbehandlung könne es nur geben, wenn es verpflichtende, rechtliche Standards gäbe, bei denen „angemessene Lebenshaltungskosten“ abgezogen würden. Eine solche Berechnung ergäbe gravierende Unterschiede in den Tagessätzen.

Die befragten Richter*innen und Staatsanwält*innen bemerkten, dass „die Höhe der Tagessätze unverhältnismäßig große Auswirkungen auf Menschen hat, die in Armut leben und die auf teils lebensnotwendige Dinge verzichten müssen, um die Geldstrafen bezahlen zu können“. Trotzdem nutzten sie ihren Ermessensspielraum nicht.

Fehleinschätzungen und das Unverständnis für die Zahlungsschwierigkeiten der betroffenen Menschen beeinflussten die Umsetzung der Tagessatz-Berechnungen. Die Feststellung, dass Tagessätze „meist zur Bestrafung von Armut verhängt (werden) oder in anderen sozialen Kontexten, die eigentlich keine strafrechtlichen Maßnahmen erfordern“ ist alarmierend.

 

Literatur:

Nagrecha, Mitali (2021): Justice Collective. Strukturelle Ungerechtigkeit im deutschen Tagessatz-Strafsystem. Ein Überblick über die Studienergebnisse des Criminal Justice Policy Programms an der Harvard Law School, September 2021

Nagrecha, Mitali (2020): The Limits of Fairer Fines: Lessons From Germany. Criminal Justice Policy Program at Harvard Law School/ Abruf unter: https://www.fairtrials.org/sites/default/files/Day_Fines_Report.pdf