Kleine Anfrage zu Substitution in Haft

Um den Zugang drogenabhängiger Häftlinge zu Substitutionsprogrammen geht es in einer Kleinen Anfrage (18/9900) der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Abgeordneten reagieren damit auf den Fall eines Mannes, dem in einer bayerischen Haftanstalt der Zugang zu Methadon verweigert worden war. In einer langen Frageliste verlangt die Fraktion detaillierte Auskünfte zur drogensüchtigen Inhaftierten im deutschen Strafvollzug.

Zugang zu Substitutionsprogrammen für Menschen in Haft

Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink, Kordula Schulz-Asche, Elisabeth Scharfenberg, Tom Koenigs, Hans-Christian Ströbele, Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, Kai Gehring, Tabea Rößner, Ulle Schauws, Doris Wagner, Beate Walter-Rosenheimer, Luise Amtsberg, Britta Haßelmann, Renate Künast, Irene Mihalic, Dr. Konstantin von Notz, Omid Nouripour und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kleinen Anfrage (18/9900) als PDF

Ein heroinabhängiger Patient hat vor dem Europäischen Gerichtshof für Men- schenrechte (EGMR) gegen die Bundesrepublik Deutschland geklagt, da ihm die Versorgung mit dem Ersatzstoff Methadon in einem bayerischen Gefängnis ver- wehrt wurde. Der Kläger wurde vor seiner Haft bereits über 17 Jahre mit Metha- don behandelt. Danach wurde ihm in der Haft jahrelange eine Fortführung dieser Behandlung verweigert. Dadurch wurden ihm psychische und physische Leiden zugefügt (vgl. Süddeutsche.de vom 1. September 2016). Die Richter des EGMR urteilten einstimmig, dass es sich in diesem Fall um einen Verstoß Deutschlands gegen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) handele (vgl. Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte   vom
1. September 2016).

Eine offenbar unzureichende gesundheitliche Versorgung in bayerischen Haftan- stalten trat ebenfalls im Juli 2016 ins öffentliche Bewusstsein, als mehrere Men- schen in der Justizvollzugsanstalt Würzburg in den Hungerstreik traten und unter anderem eine Versorgung suchterkrankter Menschen mit einem Methadon-Programm forderten.

Anlässlich des Welt-Drogentages am 26. Juni 2016 forderte die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) die bundesweite Etablierung von Substitutionsprogrammen für Menschen in Haft. Die DHS schildert weiter, dass „[d]iese Behand- lung [..] den Inhaftierten oftmals nicht gewährt [wird] oder bereits substituierte Drogenkonsumenten [..] die Behandlung nach ihrer Inhaftierung nicht fortsetzen [können]. Drogenabhängige benötigen aber im Vollzug ganz besonders ein auf sie zugeschnittenes Angebot psychosozialer und medizinischer Maßnahmen. Auch Spritzentauschprogramme verringern die Ansteckungsgefahr mit Infektionskrankheiten (Hepatitis, HIV), werden in deutschen Haftanstalten aber kaum umgesetzt“ (vgl. Pressemitteilung der DHS vom 23. Juni 2016).

Bei der Substitutionstherapie erhalten Menschen, die an einer Heroinabhängigkeitserkrankung leiden, eine Versorgung mit Austauschprodukten (wie Methadon) oder eine Originalstoffversorgung (mit Diamorphin). Ziel ist es, betroffene Personen dauerhaft von der Substanz zu entwöhnen bzw. durch eine medizinische
 
Dauersubstitution eine Schadensminderung zu erwirken. Die Substitutionsthera- pie trägt zur Stabilisierung und Verbesserung des Gesundheitszustands als auch der sozialen Situation der Patientinnen und Patienten bei und hat sich in der Behandlung von Menschen mit Heroinabhängigkeitserkrankung erfolgreich etabliert.

Nach der Föderalismusreform 2006 fällt der Strafvollzug in die alleinige Kompetenz der Länder. Menschen in Haft haben ein Recht auf eine hinreichende medi- zinische Versorgung. Die Justizvollzugsanstalten haben die Fürsorgepflicht für Menschen in Haft und für diese den Zugang zur Gesundheitsversorgung sicher- zustellen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR vom 1. September 2016, no. 62303/13) und welchen Handlungsbedarf leitet sie daraus ab?

2.   
a) Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil der Menschen in Haft, die illegale Drogen konsumieren (bundesweit)?
b) Welche illegalen Substanzen werden konsumiert und wie verbreitet ist der jeweilige Substanzkonsum unter den Menschen in Haft?

3.  
a) Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil von Menschen in Haft, die illegale Drogen konsumieren und an einer Abhängigkeitserkrankung leiden (bitte aufschlüsseln nach einzelnen Substanzen und Anzahl der Menschen mit Abhängigkeitserkrankung)?
b) Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil von Konsumentinnen und Konsumenten illegaler Drogen in Haftanstalten aufge- schlüsselt nach einzelnen Bundesländern?

4. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung die Dunkelziffer bei Menschen in Haft, die illegale Drogen konsumieren (bundesweit) (bitte für die letzten 10 Jahre aufschlüsseln)?

5. Wie hoch ist die Zahl der Drogentoten in Haft in den letzten 10 Jahren? Wie gestaltet sich die Verteilung der Drogentoten unter den Bundesländern?

6.   
a) Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil der Justizvollzugsanstalten, die ein Ersatzstoff-Programm für Menschen in Haft bereitstellen?
b) Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil der Justizvollzugsanstalten, die ein Originalstoff-Programm (Diamorphin-Programm) für Menschen in Haft bereitstellen
c) Wie gestaltet sich die Verteilung der Programme unter den Bundesländern?

7. Wie viele Menschen in Haft erhalten nach Kenntnis der Bundesregierung eine Ersatzstoffbehandlung?Wie gestaltet sich die Verteilung der Behandlung aufgeschlüsselt nach Bun- desländern?

8. Wie viele Menschen in Haft erhalten nach Kenntnis der Bundesregierung eine Originalstoffbehandlung (Diamorphin-Behandlung)? Wie gestaltet sich die Verteilung aufgeschlüsselt nach Bundesländern?
a) Wenn Menschen in Haft keine Originalstoffbehandlung erhalten, warum ist dies so, wenn sich diese Form der Behandlung doch bewährt hat?
 
9. Wie viele Fälle sind der Bundesregierung in den letzten 10 Jahren bekannt geworden, in denen Menschen in Haft mit einer Heroinabhängigkeitserkrankung keine Substitutionstherapie erhalten haben (bitte aufschlüsseln der einzelnen Fälle nach Bundesländern)?
a)  In wie vielen Fällen handelte es sich um eine Verwehrung der Veranlassung einer Substitutionstherapie?
b) In wie vielen Fällen handelte es sich um eine Verwehrung der Fortführung einer Substitutionstherapie?

10. Wie hoch ist der Anteil der Menschen in Haft, die nach Kenntnis der Bundesregierung nach Antritt ihrer Haftstrafe einen „Kalten Entzug“ erleiden? Wie gestaltet sich die Verteilung dieser Fälle aufgeschlüsselt nach Bundesländern?

11. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil der Medizinerinnen und Mediziner, die in Justizvollzugsanstalten tätig sind und über eine suchtmedizinische Ausbildung verfügen?
Wie gestaltet sich die Verteilung der in JVAs tätigen suchtmedizinischen Fachärztinnen und Fachärzte aufgeschlüsselt nach Bundesländern?

12. In wie vielen Fällen ziehen nach Kenntnis der Bundesregierung Justizvollzugsanstalten externe Expertinnen und Experten (konsiliarische Beratung) zur Hilfe, um (mögliche) medizinische Maßnahmen der Substitutionsthera- pie bei Menschen in Haft zu eruieren?Wie gestaltet sich die Verteilung der Fälle aufgeschlüsselt nach Bundesländern?

13.   
a) Inwieweit stehen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Justizvollzugsanstalten Fort- und Weiterbildungen zum Umgang mit Menschen mit ei- ner Abhängigkeitserkrankung in Haft zur Verfügung? Wie ist die Verteilung dieser Bildungsmöglichkeiten aufgeschlüsselt nach Bundesländern?

b) Wie hoch ist die Nachfrage nach solchen Fort- und Weiterbildungen bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Justizvollzugsanstalten?

14. Wie viele Menschen in Haft wurden nach Kenntnis der Bundesregierung in den letzten 10 Jahren in Justizvollzugsanstalten anderer Bundesländer verlegt, weil in der ursprünglichen Justizvollzugsanstalt keine suchtmedizinische Versorgung gewährleistet wurde/ werden konnte (bitte Anzahl der Fälle nach Bundesländern aufschlüsseln)?

15. Wie viele Menschen in Haft mit einer Heroinabhängigkeitserkrankung sind nach Kenntnis der Bundesregierung an einer
a)    HIV-Infektion erkrankt?
b)    Hepatitis-C-Infektion erkrankt?
c)    HIV- und gleichzeitiger Hepatitis-C-Infektion erkrankt?
d)    Erhalten aktuell alle Menschen in Haft mit den o. g. Infektionserkrankungen nach Kenntnis der Bundesregierung eine dem medizinischen Stan- dard entsprechende Therapie?
 
16. In wie vielen Justizvollzugsanstalten werden nach Kenntnis der Bundesregierung Spritzenaustauschprogramme für Menschen in Haft bereitgestellt? Wie gestaltet sich die Verteilung der Programme unter den Bundesländern?
a)    Wie wirkt sich die Bereitstellung von Spritzenaustauschprogrammen in den Justizvollzugsanstalten nach Kenntnis der Bundesregierung auf den Gesundheitszustand der Menschen in Haft aus?
b)    Durch welche konkreten Maßnahmen unterstützt die Bundesregierung die Einführung von Spritzenaustauschprogrammen in Justizvollzugsanstalten?

17.  
a) Wie viele Fälle sind der Bundesregierung bekannt, in denen die Dosierung des Ersatz- oder Originalstoffes bei Menschen in Haft mit einer Abhängigkeitserkrankung nicht der Menge entsprach, die sie benötigten, so dass die reduzierte Medikamentengabe als Disziplinarmaßnahme angewandt wurde (bitte aufschlüsseln nach Fällen pro Bundesland für die letzten 10 Jahre)?

b) Sind der Bundesregierung darüber hinaus Studien zu diesem Vorgehen bekannt, und wenn ja, welche?
c) Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung daraus und wel- chen Handlungsbedarf leitet sie ab?

18. Welche Mengen illegaler Drogen werden nach Kenntnis der Bundesregierung jährlich in Justizvollzugsanstalten geschmuggelt (bitte aufschlüsseln nach Menge einzelner Substanzen)?

19. Gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung einen Mangel an psychotherapeutischer Versorgung in Justizvollzugsanstalten?
a)    Wenn nein, auf welche Erhebungen stützt die Bundesregierung ihre Antwort?
b)    Wenn ja, welche Schlussfolgerungen und welchen Handlungsbedarf leitet die Bundesregierung daraus ab?

20. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil der Menschen in Haft mit einer Abhängigkeitserkrankung, die nach Haftentlassung in das Hilfesystem entlassen werden?

21. Wie viele Menschen, die an einer Heroinabhängigkeit erkrankt sind, sterben nach Kenntnis der Bundesregierung nach Haftentlassung an einer Überdosierung, weil sie nicht in das Hilfesystem entlassen wurden (bundesweit und aufgeschlüsselt nach Bundesländern)?

22. Wenn der Bundesregierung keine Daten zur Situation von Menschen in Haft mit Abhängigkeitserkrankungen vorliegen, insbesondere zur Epidemiologie, Sicherstellung der suchtmedizinischen und psychotherapeutischen Versor- gung (Substitutionsprogramme, Spritzenaustauschprogramme etc.), Überführung ins Hilfesystem nach Haftentlassung etc., plant die Bundesregierung eine entsprechende bundesweite Erhebung bzw. Zusammenführung der Daten aus den Bundesländern?
Und wenn nein, warum nicht?

23. Welche Möglichkeiten der bundesgesetzlichen Regelung im Rahmen des Betäubungsmittelgesetzes oder anderer Gesetze stehen der Bundesregierung zur Verfügung, um die suchtmedizinische Versorgung von Menschen in Haft zu verbessern bzw. bundeseinheitliche Standards vorzugeben?
 
24. Wird die Bundesregierung gemeinsam mit den Bundesländern gesetzliche Regelungen erarbeiten, die eine hinreichende suchtmedizinische Versorgung von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen in Haft sicherstellen?
a) Wenn ja, wann?
b) Wenn nein, warum nicht?

25. Sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit einer bundeseinheitlichen Regelung zur Sicherstellung einer hinreichenden suchtmedizinischen Versorgung, insbesondere von Substitutionsprogrammen und Spritzenaustauschprogrammen, in Justizvollzugsanstalten und plant die Bundesregierung einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen?
Wenn ja, welche konkreten Regelungen sollen im Gesetzentwurf berücksichtigt werden?

Berlin, den 28. September 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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Wir werden in unserer nächsten Ausgabe des Informationsdienstes Straffälligenhilfe (3/2016) ebenfalls ausführlich über die Klage und die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte berichten.