Europäischer Gerichtshof zur Substitution in Haft

Prof. Dr. Heino Stöver vom Institut für Suchtforschung an der Frankfurt University of Applied Sciences kommentiert in folgender Presseinformation die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EGMR) zur fehlenden Substitutionsbehandlung in Bayern. Das Vorgehen in Bayern stellt nach Ansicht des EGMR eine Verletzung von Artikel 3 (Verbot der Folter) der Europäischen Menschenrechtskonvention dar.

Für Methadon in Gefängnissen, verwehren ist unmenschlich
Deutschland vom Menschenrechtsgerichtshof verurteilt

In Deutschland befinden sich etwa 77.000 Menschen in der Substitution: Die Drogenersatztherapie ist die Standardtherapie bei bestehender Opiatabhängigkeit und erlaubt den Patienten ein normales Funktionieren im Alltag. Wenn eine Haftstrafe vollzogen wird, soll nach den Richtlinien der Bundesärztekammer die Fortführung der Behandlung im Vollzug sichergestellt werden. Dies ist aber nicht in allen Justizvollzugsanstalten in Deutschland gewährleistet, manchmal in ganzen Regionen nicht. In Bayern wurde Gefangenen nur in ganz seltenen Fällen die Substitution gewährt (bei 45 von ca. 3.000 Gefangenen, die theoretisch dafür in Frage kämen), grundsätzlich stand man der Behandlungsform dort kritisch und ablehnend gegenüber. 2012 beschritten zwei Gefangene der JVA Kaisheim unabhängig voneinander den Klageweg, beide wurden vor Haftantritt seit vielen Jahren substituiert, sie erfüllten alle Voraussetzungen der Behandlung und sie waren zudem in einer äußerst schwierigen gesundheitlichen Situation. Sie scheiterten vor dem Landgericht Augsburg und dem Oberlandesgericht in München.

Der Klageweg in medizinischen Fragen ist für Gefangene ein schwieriges Unterfangen, sie verbleiben in der JVA und ein Arztwechsel ist – aufgrund fehlender freier Arztwahl – nicht möglich. Trotz aller Konflikte und Herausforderungen zog einer der beiden Gefangenen der JVA Kaisheim vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Am 01.09.2016 wurde die Entscheidung verkündet. Das Vorgehen in Bayern stellt eine Verletzung von Artikel 3 (Verbot der Folter) der Europäischen Menschenrechtskonvention dar. Der Artikel 3 besagt, dass niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf. Das Gericht hat sich nicht abschließend zur Frage geäußert, ob die Substitution zwingend erforderlich gewesen wäre. Aber allein die Unterlassung der zuständigen Behörden, die Notwendigkeit einer Substitution hinreichend zu prüfen, sei rechtswidrig. Die JVA hätte unabhängige Fachleute hinzuziehen müssen. Die Richter hoben auch den Grundsatz hervor, dass Gefangenen eine gleichwertige medizinische Behandlung wie Menschen in Freiheit zusteht.

Nach wie vor leiden viele Häftlinge des bayerischen Vollzugs unter der fehlenden Substitutionsbehandlung. Im Juli 2016 sind über 40 Gefangene der JVA Würzburg in den Hungerstreik getreten, um sich für die Substitution in der JVA einzusetzen. Der Vollzug kam ihren Forderungen nicht nach, der Hungerstreik wurde nach ca. 12 Tagen beendet. Eine Unterstützung der Gefangenen, um deren Forderungen durchzusetzen, wäre daher dringend geboten.

Das Urteil ist ein Meilenstein und wegweisend. Es wird JVAs stärker in die Pflicht nehmen, über Substitutionsbehandlungen aufzuklären und sie, wenn angezeigt, auch anzubieten. Das wird den Umgang mit den vielen Opiatabhängigen im Justizvollzug versachlichen und mehr Menschen diese Behandlungsform ermöglichen.

Zur Rechtsprechung:

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Ansprechpartner:
Prof. Dr. Stöver
Frankfurt University of Applied Sciences
Fachbereich 4: Soziale Arbeit und Gesundheit
Tel.: 069/1533-282
E-Mail: hstoever@fb4.fra-uas.de